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07.08.2018

Fortschritte sind nicht selbsverständlich

Angelika Winter
Angelika Winter.
Vor zehn Jahren, am 1. August 2008, begann die Tätigkeit von Angelika Winter als Frauenbeauftragte der Stadt Trier. Ihr Start war nach eigener Aussage teilweise ein Sprung ins kalte Wasser, denn ihre Vorgängerin Maria Rieger-Nopirakowski war mehrere Monate vorher in den Ruhestand gegangen. Im Gespräch mit der Rathaus Zeitung (RaZ) zieht Winter eine Bilanz.

RaZ: Wenn Sie auf die letzten zehn Jahre als Frauenbeauftragte zurückblicken, was war der größte Erfolg und was die größte Enttäuschung?

Angelika Winter: Ein Erfolg war, das ich sehr schnell gemerkt habe, dass wir in Trier eine sehr bunte Landschaft an Aktiven in der Frauenpolitik haben, an Netzwerken und Beratungsstellen. Die Zusammenarbeit hat sehr schnell sehr gut funktioniert. Für die Netzwerkarbeit habe ich mir am Anfang sehr viel Zeit genommen. Das hat das erste halbe Jahr in Beschlag genommen. Eine funktionierende Netzwerkarbeit ist das A und O meiner Arbeit. Eine leichte Enttäuschung war innerhalb der Verwaltung, dass zum Beispiel das Gender Budgeting mit der Berücksichtigung der Geschlechtergerechtigkeit bei allen Haushaltsplanungen nicht so umfassend umgesetzt werden konnte wie erhofft.

Eines Ihrer größeren Projekte ist der jährliche Equal Pay Day für mehr Entgeltgerechtigkeit. Gab es Fortschritte auf der kommunalen Ebene?

Die Idee, die Lohnlücke von 23 Prozent beim Start 2009 plakativ umzusetzen durch den Rabatt in gleicher Höhe für Frauen, die an dem Aktionstag in Läden der Neustraße einkaufen, war sehr erfolgreich. Wir konnten diese Zahl so transportieren, dass es auffällt. Das war ein ganz anderes Herangehen als das Thema bei einem Vortragsabend zu präsentieren. Von den Betrieben in der Neustraße gab es sofort breite Unterstützung, aber auch von den Stadtratsfraktionen, Verbänden und Gewerkschaften. In den Läden kamen wir mit vielen Frauen und einigen Männern ins Gespräch und konnten das Problembewusstsein schärfen.

Ein großes Problem für viele Frauen sind niedrige Renten im Alter. Welche Einflussmöglichkeiten hat hier die kommunale Frauenpolitik?

Als ich vor zehn Jahren angefangen habe, war das traditionelle Rollenbild noch sehr verankert. Da müssen wir ansetzen und Paaren die Chance geben, sich mit dem eigenen Lebensmodell und den finanziellen Folgen im Alter kritisch auseinanderzusetzen. In den letzten Jahren haben wir einen Umbruch: Immer mehr junge Väter wollen nicht mehr diese Allein-Ernährerrolle haben und immer mehr Frauen erwerbstätig sein. Beide Geschlechter wollen etwas erreichen, aber im Alltag klappt das nicht immer. Immer noch leisten überwiegend die Frauen die unentgeltliche Familienarbeit und haben finanzielle Einbußen im Alter. Derzeit haben sie im Durchschnitt 53 Prozent weniger Rente als Männer. Diese Zahl ist alarmierend. Es gibt immer noch ein großes Gefälle, die Risiken sind enorm. Brüche in der Erwerbsbiografie schlagen sich in der Rente nieder. Zwar sind in dieser Frage die Bundesgesetze ausschlaggebend, aber gerade bei der Bewusstseinsbildung können wir in den Kommunen einiges erreichen. Wir wollen zum Beispiel Vätern Mut machen, länger als zwei Monate in Elternzeit zu gehen und für ein partnerschaftliches Familienleben werben, bei dem sich beide Elternteile für das Familieneinkommen und die Familienfürsorge zuständig fühlen.

Gibt es Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie?

Das 2010 gestartete Bündnis für Familie ist ein Baby von mir und ein sehr wichtiges Thema. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie war, ist und wird weiterhin der Schlüssel zu ganz vielen gleichstellungspolitischen Zielen sein. Wenn wir es nicht hinkriegen, dass sich Frauen auch ein Stück weit entlasten können von ihrer Familienarbeit, können sie sich nicht mit 100 Prozent im Job einbringen. Das ist aber erforderlich, um sich wirtschaftlich unabhängig zu machen. Ich habe dieses Bündnis mit mittlerweile über 60 verschiedenen Partnern sehr gerne aufgebaut. Wir haben viel erreicht, zum Beispiel das Ferienbetreuungsticket oder die Kita im Gewerbegebiet Monaise mit Belegplätzen der Firma JTI. Außerdem hat das Bündnis Akzente gesetzt beim Kita-Ausbau und der Flexibilisierung der Öffnungszeiten. Gerade aber viele kleinere und mittlere Unternehmen in Trier schenken dem Thema noch zu wenig Aufmerksamkeit, obwohl Familienfreundlichkeit als Imagefaktor für die Attraktivität einer Firma anerkannt ist.

Sie sind seit längerem in der Landesarbeitsgemeinschaft der Frauenbeauftragten tätig, zeitweise im Sprecherinnengremium. Wie steht die Trierer Frauenpolitik in Rheinland-Pfalz da?

Es gibt immer noch Unterschiede zwischen den Städten und dem eher ländlichen Umfeld, zum Beispiel beim Wiedereinstieg in den Beruf oder bei Frauen, die nach einer Trennung plötzlich große Probleme haben, weil sie keine angemessene Qualifizierung für den Arbeitsmarkt mehr haben. Ungelernte Frauen gibt es in der Stadt weniger. Hervorheben möchte ich die gute Beratungsinfrastruktur in der Stadt Trier, insbesondere die der Frauenberatungsstellen. Hier müssten weitere Finanzierungsquellen ausgeschöpft werden, beispielsweise die Beteiligung der Landkreise an der Gesamtfinanzierung solcher Einrichtungen, die auch von dort wohnenden, hilfebedürftigen Frauen aufgesucht werden.

Wie schätzen sie die Entwicklung der Gleichstellung in Deutschland im weltweiten Vergleich ein, auch mit Blick auf ein Land wie Saudi-Arabien, in dem erst kürzlich das Fahrverbot für Frauen aufgehoben wurde?

Das ist ja Gott seiDank meilenweit entfernt von unserer Situation. Wir haben schon eine ganz andere Grundlage für die Gleichberechtigung seit dem Start der kommunalen Frauenbeauftragten Ende der 80er Jahre. Aber viele junge Frauen sehen den Bedarf nicht mehr, sich für die Gleichberechtigung zu engagieren. Die Wege stehen ihnen auf den ersten Blick offen: 54 Prozent der Abiturienten in diesem Jahr waren Frauen, sie machen die besseren Abschlüsse an der Uni. Trotzdem finden sie sich in den Spitzenpositionen nicht wieder. Da gibt es noch einen erheblichen Handlungsbedarf, obwohl man sich subjektiv als gleichberechtigt fühlt. Junge Frauen wollen sich nicht benachteiligt fühlen. Die Erfahrung zeigt aber leider, dass die überkommenen Strukturen sehr hartnäckig sind.

Woran machen Sie das konkret fest?

Die Gesetze fördern das leider immer noch, zum Beispiel durch das Ehegattensplitting oder die beitragsfreie Familienmitversicherung. Frauen werden so leider nicht eingeladen, selbstbestimmt ihren Weg zu gehen. Viele junge Frauen nehmen die bereits erkämpften Fortschritte bei der Gleichberechtigung als zu selbstverständlich hin. Es gibt aber immer noch Handlungsbedarf zum Beispiel bei der Versorgung schwangerer Frauen. Wir haben viel zu wenige Hebammen. Es gibt erhebliche Probleme bei Frauen, die ihre Schwangerschaft nicht zu Ende führen wollen. Die katholischen Kliniken in Trier führen aus grundsätzlichen Gründen keine Abbrüche durch. So müssen Frauen aus der Region dafür teilweise mehr als 100 Kilometer Fahrweg auf sich nehmen. Solche Hürden und Diskriminierungen passen nicht mehr in die heutige Zeit.

Können Sie sich vorstellen, dass in der heutigen Zeit, in der einige Berufsfelder von Frauen dominiert werden, in diesen Bereichen auch ein Männerbeauftragter ernannt werden könnte?

In frauendominierten Bereichen, wie Kitas oder der Pflege, sind die Löhne oft unterdurchschnittlich. Es muss deutliche Verbesserungen bei der Bezahlung für den Dienst an den Menschen insgesamt geben. Zudem wäre eine Quote mit einer Steigerung des Männeranteils hilfreich. Die Selbstverpflichtung der Wirtschaft, die Zahl der Frauen in Führungspositionen zu erhöhen, hat leider nicht geklappt.

Hat es Sie überrascht, wie heftig die „#meToo"-Debatte geführt wird, in der Frauen über oft lange tabuisierte Gewalterfahrungen berichten?

Da mir die hohe Dunkelziffer bei der Gewalt gegen Frauen seit Jahren bekannt ist, war ich nicht überrascht über das Ausmaß, habe mich aber gefreut, dass die Frauen den Mut gefunden haben, diesen Schritt zu tun. Es ist die Chance des Internets, dass man sich nicht irgendwo hinstellen muss, womöglich am Pranger am Hauptmarkt, um über diese oft sehr persönlichen Gewalterfahrungen zu berichten. Das Netz birgt die Gefahr von Übertreibungen. In dem konkreten Fall glaube ich aber, dass das Ausmaß der Debatte der Realität entspricht. So etwas sowie der Slogan „Nein heißt Nein" gehören in die Öffentlichkeit. Es ist gut, dass sich wieder mehr Frauen trauen, dazu zu stehen, was ihnen widerfahren ist, um aus der Opferrolle herauszukommen und wieder handlungsfähig zu werden. Solche Aktionen können auch die Solidarität unter den Frauen wieder stärken, die ansonsten in den letzten Jahren oft geringer geworden ist.

Wie sind Sie zu dieser Einschätzung gekommen?

Früher wurden Frauen kritisch angegangen (häufig von Frauen), wenn sie mit kleinen Kindern arbeiten gegangen sind. Sie wurden oft als „Rabenmütter" bezeichnet. Hier gab es eine Spaltung. Heute wird eher abschätzig über die „Nur- Hausfrau" geredet und sie als rückständig bezeichnet. Der Begriff „Herdprämie" für das Betreuungsgeld ist nur ein Beispiel. Das zeigt die Geringschätzung der wertvollen Familienarbeit. Ich wünsche mir mehr Solidarität im Sinne einer wertfreien Betrachtung beider Optionen. Man muss verschiedene Lebensmodelle von Männern und Frauen einfach akzeptieren. Mir geht es darum, die Bedingungen für eine echte Wahlfreiheit zu schaffen.

Was waren weitere Schwerpunkte Ihrer Arbeit in den letzten zehn Jahren?

Einer war die Prostitution. In Trier gibt es durch die Grenznähe einen Riesen-Markt für diese Dienstleistungen. Das ist ein legales Gewerbe. Mir geht es immer darum, genau zu schauen, wie es den Frauen geht. Das Spektrum ist groß: Es gibt selbstbestimmte Prostituierte, Zwangsprostituierte und Menschenhandel. Weil diese Gruppe sehr heterogen ist, brauchen wir ein sehr differenziertes Herangehen. Ich habe damals die Beratungsstelle aufgebaut mit dem Ziel, einen Zugang ins Prostituiertenmilieu zu erhalten. Das 2017 erreichte weitgehende Verbot der Bordellwerbung war ein großer Erfolg. Das wurde sehr breit öffentlich wahrgenommen. Dabei ging aber etwas unter, dass ich mich rund fünf Jahre im Hintergrund darum bemüht habe. Andere Fortschritte in der Frauenpolitik, die in den letzten Jahrzehnten erreicht wurden, müssen immer wieder verteidigt werden.

Wie sieht es mit dem Thema Flüchtlinge aus?

Seit gut zwei Jahren beschäftigt mich das Thema Frauen und Flucht sehr stark. Der vermehrte Zuzug von Flüchtlingen ist auch eine Herausforderung für die Gleichstellungspolitik. Wir haben es teilweise mit Kulturen zu tun, die eben nicht aufgeklärt sind, was die Frauenrechte angeht. Dieser Herausforderung müssen wir begegnen. Es tut mir weh, zu sehen, wenn Frauen, die etwa ein Drittel der Flüchtlinge ausmachen, keine Chance haben, an einem Sprach- oder Integrationskurs teilzunehmen. Nicht nur aus gesellschaftlichen Gründen, sondern weil sie ihre Kinder bei sich behalten und nicht in einer Betreuung abgeben wollen. Ohne Deutschkenntnisse können sie aber nicht so integriert werden wie wir uns das wünschen. Auch hier brauchen wir differenzierte Lösungen. Wir nehmen Rücksicht auf spezifische Bedürfnisse. So gibt es eine Kinderbetreuung direkt neben dem Kursraum.

Welche neuen Projekte möchten Sie in den nächsten Jahren angehen oder weiterentwickeln?

Bei den Integrationsbemühungen für weibliche und männliche Flüchtlinge müssen wir das Rollenverständnis der deutschen Gesellschaft noch besser nahebringen, ohne erhobenen Zeigefinger. Dazu gibt es beispielsweise ein Projekt mit Pro Familia. Außerdem wünsche ich mir einen Ausbau der Stellen für kommunale Gleichstellungsbeauftragte, weil man strukturell schauen muss, wie die Männer- und Jungen-Projekte stärker eingebunden werden können. Nicht um die Frauenförderung zu reduzieren, sondern um Familien auch angesichts des Wandels der Rollenmuster zwischen den Geschlechtern zu stabilisieren. Das hochkomplexe Thema Entgeltgleichheit bleibt uns weiter erhalten, ebenso leider immer noch das immer wieder erschütternde Ausmaß der Gewalt gegen Frauen. Ich werde weiterhin mit aller Kraft daran arbeiten, mich überflüssig zu machen.

Das Gespräch führte Petra Lohse