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27.12.2011

"Es gibt kein zurück mehr"

Im September kehrte die 95-jährige Miriam Neumeier 75 Jahre nach ihrer Flucht nach Paläs-tina erstmals wieder in ihre Heimatstadt Trier zurück. OB Jensen zeigt ihr eine Dokumentation über die von den Nationalsozialisten ermordeten Trierer Juden.
Im September kehrte die 95-jährige Miriam Neumeier 75 Jahre nach ihrer Flucht nach Paläs-tina erstmals wieder in ihre Heimatstadt Trier zurück. OB Jensen zeigt ihr eine Dokumentation über die von den Nationalsozialisten ermordeten Trierer Juden.
Begegnungen mit Menschen, Ringen um den Etat, Ausbau kommunaler Beziehungen mit China, die Bedeutung Europas für Trier, Facebook oder NPD-Aufmärsche: Im Interview mit der Rathaus Zeitung (RaZ) nimmt OB Jensen zum Jahresabschluß Stellung zu wichtigen Themen der zurückliegenden zwölf Monate und unternimmt auch einen Ausblick auf das kommende Jahr.

RaZ: Herr Jensen, wenn Sie auf die zurückliegenden zwölf Monate zurückblicken, was waren Ereignisse, an die Sie besonders gerne zurückdenken?

OB Jensen: Da fällt mir sofort die Begegnung mit der vitalen 95-jährigen Miriam Neumeier ein, die als junge Jüdin aus ihrer Geburtsstadt Trier vor den Nationalsozialisten über Umwege nach Palästina floh und 75 Jahre später im biblischen Alter erstmals zu uns zurückkehrte, fließend Deutsch sprach und uns vom Leben in ihrer früheren Heimatstadt erzählte. Das war schon sehr bewegend. Eine tolle Sache war die Wiedereröffnung des Gebäudes J der Berufsbildenden Schulen, für dessen aufwendige und langwierige Sanierung auch ich richtig viel gekämpft habe. Die Fertigstellung des neuen Bischof-Stein-Platzes hinter dem Dom macht unsere Innenstadt wieder ein Stück attraktiver. Einen wichtigen Schritt für Trier sehe ich auch in der jetzt offiziellen Partnerschaft mit der chinesischen Stadt Xiamen.

Und welchen kommunalen Ereignissen sehen Sie im kommenden Jahr mit besonderen Erwartungen entgegen?

Da gibt es natürlich eine Reihe von Dingen, die anstehen. Aber keine Veranstaltung wird Trier 2012 so prägen wie die Heilig- Rock-Wallfahrt. Das wird ein herausragendes Ereignis unter religiösen, aber auch unter touristischen Aspekten. Wir erwarten rund eine halbe Million Pilger und Gäste aus der ganzen Welt, darunter auch aus unseren Partnerstädten, beispielsweise aus Ascoli Piceno.

Vor einem Jahr wurde der Haushalt 2011 in einer denkwürdigen Sitzung abgelehnt. Das ist dieses Jahr anders gelaufen. Der Etat für das kommende Jahr wurde vom Rat vor wenigen Tagen mit großer Mehrheit verabschiedet. Was hat sich gegenüber der Situation vor zwölf Monaten geändert?

Da kommen verschiedene Faktoren zusammen. Ich denke, dass noch nie so intensiv zwischen allen Beteiligten über den Etat beraten, ja im konstruktiven Sinne miteinander gerungen wurde wie diesmal. Ich selbst war jetzt gut vier Monate annähernd täglich mit dem komplizierten Zahlenwerk beschäftigt. Auch wollte niemand die Teilnahme unserer Stadt am Entschuldungsfonds ernsthaft aufs Spiel setzen. Hinzu kommt die weltweite Diskussion über die globale labile Finanzlage, deren Auswirkungen überhaupt noch nicht absehbar sind. Das lässt uns alle nicht unbeeindruckt und hat sicherlich auch das Verantwortungsbewusstsein im Rathaus, aber auch bei den Bürgerinnen und Bürgern gesteigert. Wir wollen hier jedenfalls keine griechischen Verhältnisse.

Seit Jahren, wenn nicht sogar seit Jahrzehnten, heißt es auch für den kommunalen Bereich, dass gespart werden müsse. Jetzt ist – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der globalen Finanz- und der europäischen Schuldenkrise – klar geworden, wie dramatisch die Lage ist, und ein finanzpolitischer Kollaps mit ungeahnten Folgen droht. Was ist in der Vergangenheit falsch gemacht worden und wo sehen Sie Anhaltspunkte einer Kehrtwende?

Im Nachhinein weiß man vieles besser, und ich möchte in der Rückschau nicht den großen Lehrmeister spielen. Dennoch: Wir waren über viele Jahre ungeachtet aller Appelle wahrscheinlich doch zu sorglos und zu wenig konsequent. Beispielsweise hat der Rat immer wieder die Verwaltung beauftragt, Einsparungen vorzuschlagen oder Sparkonzepte zu entwickeln. In der Umsetzung wurden diese aber meistens aufgeweicht oder ganz verworfen. Das hat sich jetzt schon geändert. Noch nie war der Zwang, handeln zu müssen, so konkret und greifbar wie jetzt. Wenn wir unseren Kindern und Enkeln noch Gestaltungsspielräume überlassen möchten, gibt es kein Zurück mehr. Das tut vielfach weh und ist für alle Verantwortungsträger ein wirklich schmerzlicher Prozess.

In Ihrer Haushaltsrede haben Sie für 2012 eine Vielzahl von anstehenden Herausforderungen und Vorhaben benannt. Welche Projekte liegen Ihnen denn besonders am Herzen?

Auch hier fällt es mir schwer, einzelne Vorhaben herauszugreifen. Aber der Wohnraumfrage kommt ein besonderer Stellenwert zu. Es wird für immer mehr Menschen in unserer Stadt schwieriger, eine passende und finanzierbare Wohnung zu finden. Das gilt für die unteren, aber auch für die mittleren Einkommen. Trier ist zum sehr begehrten Wohnstandort geworden. Das ist einerseits ein gutes Zeichen, andererseits bringt es viele Probleme mit sich. Das Wohnraumkonzept soll hierzu Lösungen aufzeigen. Städtische Wohnungen müssen erhalten und saniert werden. Oberstes Ziel ist die Sicherstellung von Wohnraum auch für Menschen, die auf dem Immobilienmarkt kaum Chancen haben. Neue Perspektiven für den Wohnungsbau erwarte ich auch von den Zukunftsprojekten in Trier-West oder Castelnau in Feyen.

Vor der Stadtratsabstimmung über eine weitere Verlängerung des Pachtvertrages für die Aral-Tankstelle in der Ostallee wurde – in dieser Form erstmals – über das keineswegs unumstrittene Internet-Medium Facebook Stimmung für eine Verlängerung gemacht, die schließlich auch knapp vom Rat, entgegen eines früheren Votums des Fachausschusses, beschlossen wurde. Wie beurteilen Sie diese neue Form der Bekundung des Bürgerwillens?

Das Internet mit seinen Social-Media-Komponenten ist für mich ein wichtiges Instrument, um Meinungen oder Stimmungen begleitend zum Ausdruck zu bringen. Das kann man als Politiker nicht einfach ignorieren, so umstritten Facebook oder Twitter im Einzelnen auch sein mögen. Eine tiefe inhaltliche Auseinandersetzung, geschweige denn Abwägung, mit teilweise komplexen Sachverhalten findet hier allerdings nicht statt. Und deshalb kann so eine letztlich willkürliche Facebook-Bekundung für mich auch keine maßgebliche Entscheidungsgrundlage für kommunale Vorhaben sein.

In diesem Jahr gab es mehrere kleine Kundgebungen der rechtsextremen NPD in Trier, die dennoch stets den Fokus auf sich gezogen haben. Und in zwei Fällen hat die Stadt vergeblich versucht, diese Demonstrationen auf dem Rechtsweg zu verhindern.

Davon bin ich wirklich sehr enttäuscht, vor allem von der OVG-Entscheidung, am Tag des Gedenkens an die Opfer der schrecklichen Reichspogromnacht vom 9. November 1938 unter fadenscheinigen Begründungen NPD-Horden aufmarschieren lassen zu müssen. Es ist für mich nicht hinnehmbar, wie zynisch diese rechtsextremistische Partei mit dem schrecklichen Schicksal von Millionen von Menschen umgeht, dass es ihr in ihrer derzeitigen Legalität – und von uns allen über Steuern bezahlt –  ermöglicht wird, für die Abschaffung unseres demokratischen Rechtsstaates einzutreten. Wir müssen gemeinsam alles daran setzen, dass diese Partei verboten wird.

Zu den schlimmen Ereignissen des zurückliegenden Jahres gehört die Atomkatastrophe von Fukushima. In welcher Weise hat das dortige Geschehen Ihre Politik in Energiefragen, auch als Aufsichtsratsvorsitzender der hiesigen Stadtwerke, beeinflusst?

Meine Position zu energiepolitischen Fragen mit dem Nein zur Atomkraft und zu Kohlekraftwerken ist auf tragische Weise bestätigt worden. Wir verfolgen mit unseren Stadtwerken ja schon seit längerem einen konsequenten Kurs auf erneuerbare Energien. Dazu hätte es der schrecklichen Erfahrungen von Fukushima also nicht bedurft. Was den Sündenfall mit unserer vom Rat mehrheitlich beschlossenen SWT-Beteiligung am Kohlekraftwerk Hamm angeht, kommt zu den negativen ökologischen Folgen durch die aktuelle Entwicklung jetzt auch noch ökonomisch eine erheblich reduzierte Gewinnerwartung hinzu.

Die Verbindungen zu China wurden auch im zurückliegenden Jahr durch verschiedene Initiativen gestärkt. In welcher Weise profitiert Trier davon und wie ordnen Sie in diesem Zusammenhang die Menschenrechtsproblematik ein?

Unsere Verbindungen zu China sind eine Investition in die Zukunft. Das meine ich keineswegs nur wirtschaftlich, sondern ganz allgemein. Durch die Mitwirkung vieler Institutionen in Trier, darunter die Deutsch-Chinesische Gesellschaft, das Konfuzius-Institut an der Universität und das europäisch-Chinesische Zentrum für Ausbildung und Forschung in Entwicklungs- und Raumplanung (ECER) ist unsere China-Kompetenz gewachsen. Vom zunehmenden Wissenstransfer profitieren beide Seiten, und der wachsende Schüler- oder Studierendenaustausch wird auf Dauer zu einer neuen Kultur des Miteinanders entscheidend beitragen. Die Menschenrechtsfrage darf bei dem Prozess zunehmender Begegnungen nicht ausgeklammert werden. In dieser unverändert wichtigen Angelegenheit erhoffe ich mir von der Strategie eines „Wandels durch Annäherung“ aber mehr als von einer Verweigerungshaltung, nicht miteinander zu sprechen oder gar der Konfrontation den Vorzug zu geben.

Im kommenden Jahr gibt es erstmals ein gewähltes Jugendparlament in Trier. Welchen Wert messen Sie einem solchen Forum bei?

Das ist ein wichtiger Schritt und ein guter Weg, junge Menschen an die Politik heranzuführen, damit sie Verständnis für die gesellschaftlichen Anliegen entwickeln lernen und später bereit und fähig sind, Verantwortung für unser Gemeinwesen zu übernehmen. Um mehr junge Menschen für die Politik zu interessieren, brauchen wir glaubwürdige Formen der Beteiligung, mit deren Hilfe sie in einem demokratischen Prozess spezifische Anliegen praktisch umsetzen können. Mit ihrer Wahl ins Jugendparlament verfügen die jungen Menschen über ein Mandat. Sie können und sollen sich in die Politik einmischen. Ich bin sehr auf die ersten Erfahrungen gespannt.
 
Trier fühlt sich, nicht zuletzt aufgrund der leidvollen Geschichte der Stadt in der früheren Grenzregion, dem europäischen Vereinigungsgedanken in besonderer Weise verpflichtet. Die EU steht aber schon seit Monaten unter dem Damoklesschwert einer ungeheuerlichen Staatsschuldenkrise, die viele an der derzeitigen Konstruktion des europäischen Hauses zweifeln lässt.

Es darf nicht passieren, dass der Europa-Gedanke über die Finanz- und Schuldenkrise ins Wanken gerät oder gar zusammenbricht. Das wäre eine Katastrophe für uns alle und für uns Trierer in ganz besonderer Weise. Gerade für unsere Stadt war und bleibt Europa in jedweder Beziehung ein Glücksfall. Wir haben dieser völkerverbindenden Idee in allen Bereichen unendlich viel zu verdanken. Auch in der jetzigen Finanzkrise sollten wir uns darauf besinnen, dass uns das freundschaftliche Miteinander in der Europäischen Union seit gut 50 Jahren Frieden und Freiheit geschenkt hat. Jean-Claude Juncker, unser luxemburgischer Ehrenbürger, drückt das europäische Vermächtnis gerne in dem symbolträchtigen Satz aus, dass diejenigen, die die europäische Idee nicht verstehen, einmal auf die Soldatenfriedhöfe gehen sollten. Davon abgesehen, sind wir ohne eine gemeinsame EU-Wirtschaftspolitik doch überhaupt nicht in der Lage, den globalen Konkurrenzkampf auch nur annähernd zu bestehen.

Verraten Sie uns abschließend noch, wie Sie den Jahreswechsel verbringen und mit welchen guten Vorsätzen Sie in das neue Jahr starten wollen?

Ich freue mich auf ein paar ruhige Tage im Kreise der Familie, die für eine Woche komplett zusammen kommen wird. Und bei den guten Vorsätzen ist es immer das Gleiche: Sich noch stärker von den wirklich wichtigen Dingen leiten zu lassen und alles so gut zu machen, wie irgend möglich.

Das Gespräch führte Hans-Günther Lanfer