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01.11.2022

Die Vision von einer Stadt der kurzen Wege

Porträt von Ralf Britten in der Neustraße
Seit einem Jahr ist Ralf Britten Dezernent in Trier. Für die Innenstadt hat er große Pläne.

Corona hat den Druck auf die Innenstädte erhöht. So gibt es in vielen Citys Leerstand – selbst in beliebten Einkaufsmeilen. Doch Experten sind sich einig: Die Pandemie ist nicht ursächlich für die Problematik – die Probleme existieren seit langem, die Pandemie wirkte vielmehr wie ein Katalysator. Worin die Herausforderungen für die Innenstadt liegen, wie die Lage in Trier ist und wohin sich die Innenstadt der Moselmetropole entwickeln soll – auf diese und weitere Fragen gibt der zuständige Dezernent Ralf Britten im Interview mit der Rathaus Zeitung Antworten.

RaZ: Herr Britten, die Innenstadt ist seit Jahrzehnten geprägt von einem vielfältigen Angebot qualifizierter kleiner und großer Einzelhandelsbetriebe, die einen überregionalen Einzugsbereich haben. Wie beurteilen Sie als zuständiger Innenstadt-Dezernent die aktuelle Situation des Einzelhandels in der Innenstadt von Trier und wo sehen Sie Probleme und Chancen?

Britten: Die Trierer Innenstadt bildet einen bedeutenden Standortfaktor für die Entwicklung ganz Triers. Wie zahlreiche Innenstädte Deutschlands sieht sie sich allerdings auch seit Beginn der 2000er-Jahre einem einsetzenden Strukturwandel gegenüber, der vielschichtige, ineinander wirkende Ursachen hat. Zum einen liegen sie in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts mit deutlich veränderten, über ein Einzelhandelsangebot hinausgehende Erwartungshaltungen an Aufenthalts- und Lebensqualität, Freizeit, Kultur in der Innenstadt begründet. Zum anderen sind auch gesetzliche Rahmenvorgaben, wie die bundesdeutsche Baunutzungsverordnung mitursächlich. Diese teilt die Gesamtstadt nach Nutzungskriterien in getrennte Räume auf und unterteilt diese städteplanerisch in voneinander abgegrenzte Quartiere, die entweder nur zum Wohnen, nur für Gewerbe- oder Industrie oder nur zum Einkaufen dienen und Innenstädte damit auf reine Einkaufsmeilen reduziert.

Was ist die Folge dieser Entwicklung?

Diese über Jahrzehnte währende Praxis führte zu einem Rückgang von innerstädtischen Wohnflächen in den oberen Etagen von Geschäftsgebäuden, da der Fokus auf den finanziell lukrativeren Gewerbeflächen lag. Letztlich führt dies zu einer verringerten Zahl von Menschen in Innenstädten und in der Konsequenz auch zu Leerständen im Einzelhandel und auch in der von positiven Umfeldbedingungen abhängigen Gastronomie. Der voranschreitende Online-Handel und die Corona-Pandemie bilden nicht die eigentlichen Ursachen. Sie beschleunigen allerdings die Entwicklungen und die Gefahr einer Verödung der Innenstädte zusätzlich.

Wohin sollte sich die Innenstadt ihrer Meinung nach hin entwickeln?

Die Rückkehr zur Multifunktionalität bildet für mich einen zentralen Schlüssel für den Erfolg, besonders des kleinteiligen Einzelhandels. Der Händler braucht die, die „um die Ecke wohnen“. Ziel ist, dass insbesondere die Innenstadt 24/7 und dies 365 Tage im Jahr als lebendiger und erlebnisreicher Ort gelebt und wahrgenommen wird. Dies ist aktuell nicht der Fall. An den Abenden, aber auch an den Wochenenden wird dies besonders deutlich. Daher liegt ein Hauptaugenmerk meines Dezernats und insbesondere vom Amt für Innenstadt darin, im Dialog mit den Eigentümern, aber auch der Bevölkerung die Potenziale besonders im Bereich „Wohnen in der Innenstadt“ auszuloten, um in Zusammenarbeit mit den Akteuren zukunftsfähige Projekte anzustoßen und umzusetzen.

Wie hat sich Corona bislang auf die Trierer Innenstadt ausgewirkt?

Seit März 2020 – also mit Beginn des ersten Lockdowns – können wir die Entwicklungen im Einzelhandel und der Gastronomie durch Erfassung der uns bekannten innerstädtischen Leerstände und Nachnutzungen verfolgen. Die Daten stimmen uns gleichwohl optimistisch, weil sie belegen, dass Trier im Gegensatz zu vielen anderen Groß- und Mittelstädten noch verhältnismäßig gut durch die Pandemie gekommen ist. Dass die Attraktivität nach wie vor sehr hoch ist, zeigen uns zudem die Zahlen der Passantenfrequenzen, die teilweise sogar über Vor-Corona-Niveau liegen, und das obwohl die Gäste aus den asiatischen Ländern und insbesondere China, derzeit noch kaum in Trier zu Besuch sind. Trier hat nach wie vor einen hohen Anziehungswert für Besucher.

Auch die mitunter rasche Nachnutzung von Handelsimmobilien in der Fußgängerzone belegt, dass die Nachfrage nach Gewerbefläche nach wie vor hoch ist. Zu nennen sind zum Beispiel die Eröffnungen von Mr. Spex und des Kneipp Stores am Hauptmarkt oder der Umzug von Schuh Seibel in die Simeonstraße. Bedauerlicherweise können wir diese Entwicklung nicht im Hinblick auf die Karstadt-Immobilie bestätigen. Trotz kontinuierlichem Dialog mit dem Eigentümer ist es hier zu einem Stillstand gekommen. Wir werden aber auch hier weiter den Dialog suchen und hoffen so, dass dieses Projekt zukunftsorientiert weiterentwickelt wird.

Die Stadt Trier ist das Oberzentrum der Region. Welche besondere Bedeutung kommt aus Ihrer Sicht der Trierer Innenstadt vor diesem Hintergrund zu?

Trier übernimmt hier besondere Aufgaben und Funktionen für die umliegende, überwiegend ländlich geprägte Region. Viele Einrichtungen gibt es nur im Oberzentrum, wie etwa Hochschulen, Theater oder die beiden großen Kliniken Mutter- und Brüderkrankenhaus. Ein Großteil dieser Angebote befindet sich in der Trierer Innenstadt – diese bilden somit einen wichtigen Bestandteil auch im Hinblick auf die innerstädtische Entwicklung und damit auch des Aufgabenbereichs des neu gegründeten Dezernates V.

Wo wollen Sie im Einzelhandel zukünftig Akzente setzen?

Die Corona-Krise hat viel gemacht mit den Menschen – mit ihrem Leben als Ganzes, aber auch mit ihrem Kauf- und Konsumverhalten. Prinzipiell sind wir bestrebt, innenstadtrelevante Sortimente und Anbieter, die uns in der Innenstadt fehlen, die aber gewollt sind, in die Innenstadt zu bringen. Dafür bedarf es ganzjährig funktionierenden Netzwerken mit den Eigentümern, Handelsmaklern und dem Handel selbst.

Ein Trend – und in vielen deutschen Städten zwischenzeitlich immer beliebter – wird der kleinteilige Einzelhandel: Gemütliche Seitenstraßen mit ganz unterschiedlichen Angeboten, gemischt mit einer Gastronomie auf gutem qualitativen Niveau, also ein Mix, der sich in seinem Erfolg wechselseitig bedingt. Die Neustraße ist da ein gutes Beispiel, was uns viele Besucher bestätigen.

Ist Trier aktuell interessant für den Handel?

Es gibt nach wie vor zahlreiche Anfragen von Investoren und Entwicklern, und die Stadt vermittelt hier zwischen den Eigentümern und Interessenten. Dennoch kommt es oftmals nicht zum Vertragsabschluss. So wurde uns berichtet, dass die gewerblichen Mieten in Trier trotz Pandemie und Onlinehandel nach wie vor sehr hoch sind und somit aus wirtschaftlicher Sicht unattraktiv für die Entwickler. Dennoch konnten trotz Pandemie und Onlinehandel teilweise langjährige Leerstände beendet werden. Hierfür ist Globetrotter in der Dietrichstraße ein Paradebeispiel. Ebenfalls konnten zwei Großflächen in der Fußgängerzone während der Pandemie zeitnah umgenutzt werden: Woolworth übernahm den ehemaligen Esprit-Store und in die Brotstraße zog Wäsche Sinn ein.

Wie beurteilen Sie aktuell das Thema Leerstand in der Innenstadt?

Leider entsteht derzeit durch den Leerstand der Karstadt-Immobilie der falsche Eindruck, dass es mehr Leerstände gibt als vor Corona. Dies ist jedoch nicht der Fall. Aktuell beobachten wir zwei Tendenzen im Einzelhandel: Onlinehändler zieht es vermehrt in attraktive innerstädtische Lagen, da online Wachstum in einigen Bereichen kaum mehr möglich ist. Der Brillenanbieter „Mr. Spex“ ist dafür ein aktuelles Beispiel. Ich bin sicher, es wird nicht der letzte Onlinehändler sein, der sich in Trier niederlassen wird. Aus Anfragen, die an uns herangetragen werden, wird deutlich, dass vermehrt Einzelhandelsflächen mit Verkaufsflächen zwischen 400 und 1000 Quadratmetern in der Innenstadt gesucht werden. Leider gibt es dort auf Grund der vorhandenen kleinräumigen Strukturen aktuell keine derartigen Flächen im Angebot. Wir sind hier jedoch weiterhin im ständigen Austausch mit Eigentümern und Investoren.

Sie setzen – dies ist in den ersten Monaten Ihrer Tätigkeit sehr deutlich geworden – auf eine breite Kooperation und den Teamgedanken der beteiligten Akteure. Wie wollen Sie diese Kooperation organisieren?

Meine Erfahrungen in vergleichbaren Prozessen in Echternach und Bitburg haben gezeigt, dass die Mitnahme der Bevölkerung sowie der für die Innenstadt tätigen Akteure Grundlage für eine erfolgreiche Prozessentwicklung und anschließende Projektumsetzung sind, weil nur die auf diesem Wege erzielten Ergebnisse Glaubwürdigkeit und Akzeptanz bei einer breiteren Gesellschaft schaffen können. Es ist psychologisch wichtig, dass Entscheidungen nicht nur „aus dem Rathaus kommen“, sondern aus der städtischen Gemeinschaft. Akzeptanz und ein kooperatives Miteinander ist aus meiner Sicht maßgeblich für die Weiterentwicklung der Innenstadt.

Darüber hinaus sprechen Sie häufig von einer aktiven Bürgerbeteiligung. Wie soll diese für Sie genau aussehen?

In Trier ist es zunächst einmal so, dass die von zahlreichen Trierern oft liebevoll als „ihr Wohnzimmer mit vielen Potenzialen“ verstandene Innenstadt für die gesamte Bevölkerung Triers und Akteure der aktiven Stadtgesellschaft eine hohe emotionale und daher identitätsstiftende Bedeutung hat. Von daher sollten Ideen und Möglichkeiten eines zeitgemäßen Transformationsprozesses nur unter Beteiligung der Stadtgesellschaft Triers, die hierzu mit Sicherheit etwas zu sagen hat, aber auch der für Trier wichtigen Besucher und Gäste besonders der Region unter Koordination und Moderation durch mein Dezernat V für die Innenstadt diskutiert werden. Die Ideen münden dann in ein Leitbild, das den Vorstellungen der Gesellschaft entspricht und akzeptiert wird und stetig fortzuschreiben ist. Zudem bietet es die Chance, der Stadt Trier über Wahlperioden hinweg als verbindliche, weil von der Gesellschaft so gewollte Grundlage innerstädtischer Entwicklung und Planung verschiedenster Lebensbereiche zu dienen.

Wo sehen Sie weitere Vorteile eines derartigen Prozesses?

Der von der Gesellschaft Triers so mitgestaltete Prozess und sein Gelingen in Form geplanter und auch realisierter Vorhaben schafft auf Seiten der Bürgerschaft und Akteure der Stadtgesellschaft Identifikation mit der eigenen Stadt und vis-à-vis der Verwaltung Anerkennung und vor allem Glaubwürdigkeit. Das bürgerbasierte Innenstadtleitbild dient zugleich als Grundlage für die 2023 erfolgende Etablierung eines in der Stadtverwaltung verorteten themenübergreifenden Stadtmarketings Trier und der von der Stadt hierzu im Amt für Innenstadt neu zu schaffenden Stabstelle eines Stadtmarketingmanagers oder einer -managerin. Das Stadtmarketing koordiniert die Umsetzung des ermittelten Innenstadtleitbildes. Basierend auf einem ganzjährigen Dialog ist es darüber hinaus auch dauerhafter Ratgeber des Oberbürgermeisters, des Stadtvorstands, der Verwaltung, der Mitglieder des Stadtrates und der Akteure der Stadtgesellschaft.

Wo sehen Sie die Trierer Innenstadt im Jahr 2040?

Ein aus meiner Sicht sehr spannendes Thema wird die aktuell in Fachkreisen diskutierte „15-Minuten-Stadt“ für Trier sein. Dieser in einigen Metropolen europaweit bereits diskutierte Prozess wird meines Erachtens nach langfristig auch für die Großstädte zunehmend an Bedeutung gewinnen. Grundgedanke ist, dass in diesen Städten fast alle notwendigen Wege so kurz sind, dass sie innerhalb von 15 Minuten mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurückgelegt werden können: Supermärkte, Ärzte, Naherholungsflächen oder öffentliche Verkehrsmittel. Die Vorteile dieser Strategie liegen auf der Hand: Der Stadtverkehr nimmt ab, die Luftqualität steigt, der Lärmpegel sinkt, Anwohner verbrauchen weniger Zeit für Mobilität und es entstehen neue Räume der Begegnung. Kurzum: Die Lebensqualität der innerstädtischen Bevölkerung steigt signifikant. Wenn uns die Umsetzung dieses Konzepts gelingt, wird die Innenstadt aus meiner Sicht einer der attraktivsten Wohnstandorte für alle Alterskohorten, sowohl für Studierende, Familien mit Kindern als auch für Menschen in der dritten Lebensphase werden.

Das Gespräch führte Björn Gutheil