„Omas Bücher, Opas Briefe“ – mit diesem neuen Angebot wollen die Wissenschaftliche Stadtbibliothek und das Stadtarchiv dazu beitragen, bibliographische Schätze aus Privatbesitz zu heben und Erinnerungsstücke vor dem Vergessen zu bewahren. Die Nachfrage bei der Premiere war groß – und so mancher Teilnehmer hat Neues über die Familiengeschichte erfahren.
Auch für Archivar Jort Blazejewski ist es ein sehr spannender Moment: Feldpostbriefe aus dem ersten Weltkrieg, die knapp 110 Jahre ungeöffnet in einem privaten Nachlass lagen, gehören nicht zum Tagesgeschäft. Die nach rechts geneigte Kurrentschrift kann er vom Blatt weg lesen. Das Schriftbild des ersten Briefs ist tadellos, es gibt keine Ausbesserungen. Mit der Grammatik und Zeichensetzung hapert es etwas.
Es handelt sich um vier Briefe einer jungen Mutter an ihren Mann, der an der Front steht. Sie kamen jedoch wieder an die Absenderin zurück, weil der Soldat inzwischen vermisst und später für tot erklärt wurde. Zunächst wundert sie sich nur, dass ihr „lieber Kurt“ die Briefe nicht mehr beantwortet. Später klingt große Besorgnis durch. Daneben geht es um die Kartoffelernte auf dem heimischen Hof, aber auch um die schlechte Ernährung und Hygiene im Schützengraben. Sie erwähnt „Apfelkuchen, Butter und Wurst“, die sie ihm zusammen mit einer „Flasche Läusetod zum Einreiben“ geschickt hat.
Während Blazejewski Auszüge aus den Briefen vorliest, hören ihm Ulrike Lamberty und Peter Gruner erwartungsvoll zu – die Verfasserin ist ihre Großmutter. Mit den Fundstücken aus dem Familiennachlass hatte sich das Geschwisterpaar für die Veranstaltung „Omas Bücher, Opas Briefe“ im Stadtarchiv angemeldet. „Wir wollten vor allem wissen, welchen Inhalt die bisher geschlossenen Briefe haben, die für uns kaum zu entziffern sind“, sagt Gruner. „Es war sehr interessant zu erfahren, über welche Themen man sich damals austauschte und wie der Alltag war.“ Zur langfristigen Aufbewahrung der Briefe aus dem Jahr 1915 gibt ihnen Blazejewski säurefreie Archivmappen mit, zum einfacheren Lesen eine Tafel mit den Buchstaben der deutschen Kurrentschrift und schließlich den Tipp, sich an das Bundesarchiv zu wenden, um mehr über das Schicksal des vermissten Großvaters zu erfahren.
Alte Briefe und Bücher aus Privatbesitz historisch einzuordnen, zu entziffern, zu bewahren und auf Wunsch auch zu bewerten – darum geht es in dieser neuen Sprechstunde der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek und des Stadtarchivs. „Das ist eine sehr schöne Idee“, findet Gisela Siep-mann-Weber. Auch sie hat, neben einer beeindruckenden Postkartensammlung aus dem frühen 20. Jahrhundert, Briefe aus dem ersten Weltkrieg mitgebracht, in denen es um ihren gefallenen Großvater geht. Dessen Vater, Inhaber eines Großhandelsunternehmens, hatte im Dezember 1917 die Nachricht über eine schwere Verwundung seines Sohnes erhalten, danach aber nichts mehr gehört. Er habe noch einen „Schimmer der Hoffnung“, heißt es in einem Schreiben mit dem markanten Briefkopf seiner Firma. Vom Regiment erhofft er sich nun genauere Informationen, die aber leider wie befürchtet ausfallen: Der Kompaniechef kann ihm nur den Tod seines Sohnes bestätigen.
Mit „Omas Bücher, Opas Briefe“ hat die Stadtbibliothek anscheinend ins Schwarze getroffen. So lautete auch das Fazit von Bibliotheksdirektor Dr. Francesco Roberg: „Wir hatten dreimal so viele Anmeldungen als wir Beratungen anbieten konnten und wollen das Format daher auf jeden Fall wiederholen. Ich sehe es als Service im Sinne der Stadt auf der Grundlage unserer Expertise.“ Neben Jort Blazejewski standen der Bibliothekar Fabian Lemmes, die Restauratorin Maria Krämer und der Antiquar Peter Fritzen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit ihrem Fachwissen zur Verfügung. Organisiert wurde die Veranstaltung von Lena Roegler.
Ralph Kießling