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09.01.2018

Psychiatrie immer weiter geöffnet

Bettina Mann
Bettina Mann
Zum ersten Mal seit rund 20 Jahren liegt in Trier wieder eine umfassende Bestandsaufnahme zu den Hilfs- und Behandlungsangeboten im  psychosozialen,  psychotherapeutischen und psychiatrischen Bereich vor. Der Stadtrat nahm diesen Bericht vor Weihnachten zur Kenntnis. Im Interview mit der Rathaus Zeitung (RaZ) geht die städtische Psychiatriekoordinatorin Bettina Mann auf Schwerpunkte ein.

RaZ: Warum dauerte es rund 20 Jahre, bis ein neuer Bericht vorgelegt werden konnte?

Bettina Mann: Der erste Psychiatriebericht erschien 1996 in Folge des Landesgesetzes für psychisch kranke Personen. In diesem Zusammenhang wurde die gemeindenahe Versorgung in der Region aufgebaut. Damals herrschte eine Aufbruchstimmung. Es musste mit den Trägern zum Beispiel entschieden werden, wer in die Angebote vor Ort geht. Da gab es erst einmal keine Notwendigkeit, sich mit einer Bilanz zu befassen. Danach waren die Strukturen etabliert und es musste nicht jedes Jahr eine Bilanz erscheinen. Später kam unter anderem hinzu, dass nach der Pensionierung meines Vorgängers Franz Bonfig vor mehr als zwei Jahren die Stelle des Psychiatriekoordinators im Rathaus nicht besetzt war. Ich habe dann im Mai 2016 die Nachfolge angetreten.

Was sind die markantesten Entwicklungen in diesen gut 20 Jahren?

Die gemeindenahe Versorgung ist mittlerweile eine Selbstverständlichkeit. Die ambulanten Strukturen wurden immer mehr ausgebaut und ständig verbessert. Zudem hat sich der Blick geweitet: Alle Beteiligten achten darauf, den Betroffenen sehr viel früher Hilfe anzubieten und damit einer chronischen psychischen Krankheit vorzubeugen.

Was sind die wichtigsten ambulanten Hilfen?

Es gibt zum Beispiel verschiedene niedrigschwellige Beratungsstellen, die Selbsthilfegruppen oder die Suchtberatung. Auch die psychotherapeutischen Praxen sind sehr wichtig. Für chronisch psychisch Kranke sind ambulante Möglichkeiten im Rahmen der Eingliederungshilfe ein Gewinn, da sie da unterstützt werden, wo sie leben. Wichtig ist: Die verschiedenen Unterstützungssysteme, darunter stationäre Angebote, wie im Raphaelshaus, und in den Kliniken, wie dem Mutterhaus, müssen auf jeden Fall ineinander greifen.

Was sind die häufigsten psychischen Störungen, die eine Behandlung erforderlich machen?

Bei den Aufnahmediagnosen von Trierer Patienten, die im Mutterhaus und anderen rheinland-pfälzischen Kliniken behandelt wurden, haben affektive Störungen, also hauptsächlich Depressionen, den höchsten Anteil. Auch Suchtprobleme spielen eine wichtige Rolle. Diese Krankheiten sind aber meist nur die Spitze eines Eisbergs. Wenn sich Menschen in einer Klinik behandeln lassen, geht es ihnen meist sehr schlecht. Zudem gibt es oft eine Kombination verschiedener Erkrankungen. Sehr viele Menschen haben im Laufe ihres Lebens eine psychische Krankheit, werden aber wieder gesund. Für sie sind psychotherapeutische Hilfen sehr wichtig. Bei bundesweiten Erhebungen, die sich nicht nur auf klinische Diagnosen beziehen, taucht auch immer wieder der chronische Stress auf, vor allem bei Frauen.

Wie stark werden in Trier im Vergleich mit anderen Städten in Rheinland-Pfalz stationäre Behandlungen in Anspruch genommen?

Bei der Fallzahl sieht man, dass wir in Bezug auf eine statistische Bevölkerungsgruppe von 10.000 Personen unter dem Landesdurchschnitt sind. Unser statistischer Wert lag 2015 bei 117,8. Wir haben recht gute ambulante Strukturen. Das erklärt die relativ niedrige Zahl an klinischen Behandlungen. Mainz hat noch weniger als Trier. Das kann aber auch damit zu tun haben, dass dortige Patienten in der hessischen Nachbarstadt Wiesbaden behandelt werden und nicht in der Statistik für Rheinland- Pfalz auftauchen.

Wo kann die ambulante Versorgung noch verbessert werden?

Die kontinuierliche Hilfe im gewohnten heimischen Umfeld muss ausgebaut werden. Dann sind die Menschen besser für Krisen gerüstet. Wichtige Elemente sind auch die medikamentöse fachärztliche Versorgung und die Betreuung durch Sozialpädagogen. Insgesamt plädiere ich für eine integrierte Versorgung.

Wo sehen Sie noch weiteren Handlungsbedarf?

Wir müssen andere sektorenübergreifende Strukturen der Kooperation schaffen und prüfen, wie die psychologischen und psychiatrischen Praxen, die Kliniken, die Träger der Wohlfahrtspflege in der gemeindenahen Versorgung zusammenarbeiten. Ich habe den Eindruck, dass dort in einigen Fällen immer noch jeder für sich arbeitet und der Austausch im Interesse der Patienten verbessert werden muss. Diese sind darauf angewiesen, dass die beteiligten Einrichtungen sich mit über das beste Vorgehen beraten, weil sie das oft wegen ihrer psychischen Erkrankung nicht selbst regeln können.

Welche Funktion und welche Kompetenzen hat die Stadtverwaltung bei der Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung?

Ich kann als Koordinatorin keine verbindlichen Vorgaben für eine Zusammenarbeit machen, sondern nur immer wieder versuchen, die Beteiligten an einen Tisch zu holen und Lösungen zu entwickeln. Das ist ein komplizierter Prozess, der zwar vom Land als Gesetzgeber gewünscht ist, den man aber nicht vorschreiben  kann. Da die Kliniken Wirtschaftsbetriebe sind, stößt man auch schon mal an zeitliche Grenzen. Die Kooperation ist auch deswegen so wichtig, weil die Kliniken in Extremfällen Zwangsmaßnahmen bei Patienten durchführen müssen, die diese in ihren  Persönlichkeitsrechten massiv einschränken.

Welche Rolle spielt hier die durch die Kommunen eingerichtete Besuchskommission?

Die Mitglieder, darunter Vertreter der Patienten und Angehörigen, sind einmal im Jahr in jeder Klinik und kontrollieren die Einhaltung des Landesgesetzes. Bei diesen Besuchen spricht die Kommission auch mit den zwangsuntergebrachten Menschen.

Wie stellt sich insgesamt die Versorgung der Trierer Patienten in Kliniken, aber zum Beispiel auch in betreuten Wohngruppen im Anschluss an die stationäre Behandlung dar?

Die freien Träger versuchen, all das vorzuhalten, was gebraucht wird. Wer einen Platz in einer stationären Wohneinrichtung haben will, kriegt einen. Das gleiche gilt im ambulanten Bereich. Das Angebot ist flexibel und die Träger stellen sich auf die Bedürfnisse der Klienten ein. Schwierigkeiten sehe ich eher in anderen Bereichen, zum Beispiel wenn Patienten hochaggressiv sind und von anderen Bewohnern der Einrichtung als Bedrohung wahrgenommen werden. Dann stößt das System auch schon mal an seine Grenzen.

Was sind die nächsten Schritte nach der Veröffentlichung des Berichts?

Wir wollen uns einzelnen Aktionsbausteinen verstärkt widmen. Handlungsbedarf sehe ich nach Rücksprache mit dem zuständigen Ausschuss und dem Psychiatriebeirat zum Beispiel bei Kindern psychisch- oder suchtkranker Eltern. Solche Probleme fallen manchmal erst auf, wenn das Kind erwachsen ist und schon einiges hinter sich hat. Längst nicht alle Eltern nehmen Hilfsangebote des Jugendamts in Anspruch. Ein weiterer Aktionsbaustein ist, mit den freien Trägern der Wohlfahrtspflege zu überlegen, wie die ambulanten Strukturen weiter verbessert werden können. Diesen Schwerpunkten könnte sich dann auch die jährliche Fortschreibung des Berichts widmen, die ich für sinnvoll halte.

Das Gespräch führte Petra Lohse