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24.01.2023

Wohnen in der Innenstadt attraktiv machen

Das schräggestellte Bild zeigt Menschen, die auf einer innerstädtischen Straße mit Pflasterbelag flanieren.
Die Innenstadt soll mehr als eine bloße Einkaufsmeile sein. Sie soll nach Ansicht von Experten auch wieder als Lebens- und Wohnraum entdeckt werden.
Die Anzahl der Menschen, die in der Innenstadt wohnen, zu erhöhen, ist ein zentrales Ziel der Verwaltung. Hintergrund ist, dass viele Innenstädte, auch in Trier, von tiefgreifenden Veränderungen betroffen sind. Im Gespräch mit der RaZ erläutern Dr. Johannes Weinand, Leiter des Amts StadtForschungEntwicklung, und seine Stellvertreterin Julia Schaefer, worin die aktuellen Herausforderungen liegen und wie sie sich die Innenstadt der Zukunft vorstellen.

RaZ: Frau Schaefer, Herr Dr. Weinand, worin liegen die großen Herausforderungen für die Trierer Innenstadt?

Weinand: Die größte Herausforderung für die Innenstadt, aber auch die Gesamtstadt und die Region Trier, ist die zukünftige Bevölkerungsentwicklung. Dies betrifft sowohl die zahlenmäßige Entwicklung der Bevölkerung als auch ihre strukturelle Zusammensetzung. Wir müssen heute davon ausgehen, dass die Bevölkerung in der Innenstadt, der Gesamtstadt und der Region Trier langfristig sinken und strukturell altern wird. Dies bedingt eine enorme Veränderung der Bedarfe an öffentlichen und privaten Infrastruktureinrichtungen.

Schaefer: Unsere Untersuchungen, Analysen und Vorausberechnungen, zeigen, dass die Zahl der Menschen in der Innenstadt seit 1970 von 12.864 auf aktuell 9262 Personen gesunken ist. Dies ist ein Rückgang von 28 Prozent. Dabei hat sich die altersbezogene Zusammensetzung der Bevölkerung in der Innenstadt enorm verändert: Es leben heute insbesondere Menschen zwischen 20 und 40 und über 75 Jahren in der Innenstadt. Sie ist offensichtlich und insbesondere für Menschen in mittleren Altersgruppen, insbesondere für Familien, als Lebens-, Wohn- und Arbeitsort uninteressant geworden.

Weinand: Hinzu kommt, dass die Innenstadt letztendlich die Bedeutung der Stadt Trier als Oberzentrum für die gesamte Region ausmacht. Sie bietet oberzentrale Funktionen an, die Menschen aus der gesamten Region und darüber hinaus versorgen. Dies betrifft die Bereiche Einzelhandel, Dienstleistungen, Kultur, Verwaltungen. Diese vielfältigen Funktionen von Trier als Oberzentrum können langfristig nur aufrechterhalten werden, wenn die Innenstadt in dieser Bedeutung gesichert und ausgebaut werden kann.

Inwiefern hat Corona die Herausforderungen noch verstärkt?

Schaefer: In der Tat hat Corona Defizite, die bereits vorlagen, verstärkt und sichtbarer gemacht. Insoweit kann die Pandemie als Katalysator bezeichnet werden. Ich möchte dies am Beispiel der Einzelhandelsentwicklung deutlich machen: Die Zahlen aus der Einzelhandelsdatenbank unseres Amtes zeigen, dass die Kaufkraftbindung in den letzten 20 Jahren rückläufig ist. Dies betrifft die Stadt insgesamt, aber in besonderem Umfang die Innenstadt von Trier.

Weinand: Dieser Prozess darf jedoch nicht ausschließlich negativ bewertet werden. Vielmehr sollte er als Chance verstanden werden, um die Innenstadt für die zukünftige Entwicklung fit zu machen. Ich möchte betonen, dass die Bedeutung der Innenstadt-
entwicklung vom Rat der Stadt Trier bereits 2015 gesehen wurde, also lange bevor man überhaupt an Corona dachte. Der Trierer Stadtrat hat die Verwaltung beauftragt, Konzepte zur Innenstadtentwicklung zu verfassen und Untersuchungen durchzuführen. Diese Arbeiten hat das Amt StadtForschungEntwicklung abgeschlossen und für Anträge – wie etwa für das Bundesprogramm „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren" – verwenden können, insbesondere auch, weil der Bund als Finanzmittelgeber solche Strategiekonzepte fordert und fördert.

Wie wollen Sie den Herausforderungen begegnen?

Weinand: Die Ergebnisse liegen vor und zeigen deutlich auf, an welchen Stellschrauben gedreht werden muss, um die Innenstadt in ihrer Entwicklung zu sichern und voranzubringen. Diese Untersuchungsergebnisse sind letztendlich auch die vorgenannten vom Bund geforderten strategisch-konzeptionellen Grundlagen gewesen, um die erste Antragsphase im Bundesprogramm „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren" zu absolvieren, in der wir 3,4 Millionen Euro akquirieren konnten. Wir freuen uns, dass wir Ralf Britten, dem zuständigen Dezernenten für das Thema Innenstadt, nicht nur die fundierten Ergebnisse dieser Untersuchungen, sondern auch die Fördermittel des Bundes übergeben können.

Schaefer: Wie wir den Herausforderungen konkret begegnen wollen, wird mit dem Handlungsprogramm „Strategisches Entwicklungs- und Nutzungskonzept Innenstadt Trier", kurz SENI begründet. Es wurde mit allen wichtigen Fachämtern der Verwaltung in einem intensiven Beteiligungsprozess abgestimmt und zeigt eine Vision für die Innenstadt auf, die in strategische Richtungsziele und von dort in Leitprojekte heruntergebrochen wird.

Können Sie dies an einem Beispiel deutlich machen?

Schaefer: Gerne. Die Gesundheitsinfrastruktur und die Gesundheitswirtschaft sind für Trier als Oberzentrum und für die Innenstadt von besonderer Bedeutung. Ein strategisches Richtungsziel lautet: „Die Krankenhausträger setzen in Zusammenarbeit mit der Stadt Trier und den Hochschulen neue Leitprojekte der Gesundheitswirtschaft um". Diesem Richtungsziel sind mehrere Leitprojekte zugeordnet, etwa die „Entwicklung und Umsetzung des Medizin Campus Innenstadt". Dieses bei uns initiierte Projekt erfährt in SENI eine Weiterentwicklung, indem vorhandene Gesundheitsstandorte vom Mutterhaus über die Vereinigten Hospitien bis zum Brüderkrankenhaus als innerstädtische „Gesundheitsachse" ausgebaut werden sollen. Wichtig ist, dass diese und andere Ziele und Leitprojekte der Innenstadtentwicklung immer als Gemeinschaftsaufgabe vieler, sowohl öffentlicher als auch privater Institutionen, zu verstehen sind.

Wie kann das Bundesprogramm „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren" hilfreich sein?

Weinand: Das Bundesprogramm gibt eindeutige Vorgaben zur zukünftigen Innenstadtentwicklung. Diese haben wir mit unseren vorliegenden strategisch-konzeptionellen Arbeiten aufnehmen und in einem Antrag erfolgreich – zumindest in der ersten Antragsphase – umsetzen können. Unser Antragstitel lautet „Lebens(t)raum Innenstadt Trier (LebIT): Vergangenheit mit Zukunft. Zukunft mit Vergangenheit. Wohnen und Leben in der ältesten Innenstadt Deutschlands". Wir setzen damit primär darauf, dass die Innenstadt als Lebens- und Wohnraum wiederentdeckt wird. Hierzu wurde im Antrag argumentativ von uns aufbereitet, dass insbesondere das Wohnen wieder verstärkt in der Innenstadt entwickelt wird. Der Bund selbst stellt in Untersuchungen fest, dass Innenstädte in den vergangenen Jahrzehnten monostrukturiert wurden, also wesentliche Funktionen rückgebaut oder aufgegeben wurden. Die Innenstadt von Trier wird primär als Einkaufs- und Tourismusstadt wahrgenommen. Eine aktuelle repräsentative Bürgerumfrage von uns belegt dies deutlich. Wichtig bei dieser Befragung ist aber, dass sich die Bürgerinnen und Bürger für die Zukunft eine multifunktionale Innenstadt wünschen.

Wieso ist das Thema „Wohnen in der Innenstadt" Ihrer Auffassung nach von zentraler Bedeutung?

Weinand: Wenn die Entwicklung zu einer multifunktionalen Innenstadt politisch gewollt und tatsächlich mit konkreten Projekten umgesetzt werden soll, dann muss Wohnen in der Innenstadt wieder eine größere Bedeutung erhalten. Die langfristige Bevölkerungsentwicklung der Innenstadt ist stark rückläufig und wird es unter den heutigen Bedingungen auch langfristig bleiben, wenn keine Strukturveränderungen stattfinden. Eine wesentliche sollte sein, dass die Innenstadt wieder stärker als Wohnraum dient.

Können Sie diese Forderung auch mit Zahlen belegen?

Schaefer: Ein Mehr an 5000 in der Innenstadt lebenden Menschen bedeutet eine zusätzliche Kaufkraftbindung von jährlich circa 28 Millionen Euro. Diese zusätzlichen Innenstadtbewohner würden im Außenbereich ein Äquivalent von rund zwölf Hektar neuer Baulandausweisungen bedeuten. Mit verstärktem Wohnen in der Innenstadt könnte letztendlich auch das Leitbild der Europäischen Stadt unterstützt werden: Die Innenstadt sollte 24 Stunden an sieben Tagen belebt sein. Sie sollte – so haben wir es in unserem Antrag formuliert – als Kiez erlebbar werden.

Nun sind Innenstädte meist eng bebaut, auch in Trier. Wie kann dort mehr Wohnraum geschaffen werden? Was sind Beispiele, wo dies erfolgreich gelingen kann?

Weinand: Ein Mehr an Wohnraum kann nur gelingen, wenn die privaten Eigentümer Rahmenbedingungen und Anreize erhalten, ihre bestehenden Gebäude zu sanieren und – wo es möglich ist – zu erweitern und freie Liegenschaften neu bebaut werden. Diese Flächenpotenziale haben wir untersucht und in der Summe ein theoretisches Potenzial von 2400 bis 2800 Wohneinheiten festgestellt.

Schaefer: Ein besonders wichtiges Ergebnis unserer Untersuchungen ist, dass circa 76 Prozent der Gebäude und Flächen im privaten Eigentum sind. Diese Eigentümer sind zu 75 Prozent über 50 Jahre alt. Wir haben in unseren Untersuchungen ausgewählte Eigentümer angesprochen und konnten in dem vom Bund geförderten Projekt 25 Eigentümer ausmachen, die konkret ihr Interesse an der Bereitstellung von zusätzlichem Wohnraum mitgeteilt haben. Wichtig war ein von uns entwickelter Wirtschaftlichkeitsrechner, der unter den von den Eigentümern gesetzten Annahmen die Wirtschaftlichkeit einzelner Projekte berechnete.

Weinand: Eine wichtige Funktion hat die Verwaltung und Kommunalpolitik. Sie hat einerseits selbst Flächen in der Innenstadt, die für das Wohnen geeignet sind. Als Beispiel können die Parkplätze in der Innenstadt genannt werden. Hier haben wir etwa den Irminenfreihof untersucht. Mit einem aufgeständerten Gebäude könnte zusätzlicher Wohnraum geschaffen, Stellplätze erhalten und mit Dachbegrünung ein Teilbeitrag zur innerstädtischen Klimaverbesserung geleistet werden. Ein weiteres Beispiel ist eine in der Innenstadt leerstehende ehemalige Seifenfabrik, in der durch Umbau zusätzlicher Wohnraum geschaffen werden könnte. Für alle diese Projekte muss der Anspruch an Stellplätze und Denkmalschutz geprüft und umgesetzt werden.

Wie sieht Ihre Vision für die Trierer Innenstadt im Jahr 2030 aus?

Weinand/Schaefer: Die im Konzept SENI mit den Fachämtern abgestimmte Vision lautet: „In der Innenstadt von Trier leben im Jahr 2025 in einem multifunktionalen und qualitativ vielfältigen Umfeld insgesamt 15.000 Menschen in einer ausgewogenen Alters- und Erwerbsstruktur".

Das Gespräch führte Björn Gutheil