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12.07.2022

Keine Geschichte der Sieger

Ausgewählte Werke von Walter Benjamin.
Ausgewählte Werke von Walter Benjamin. Foto: Wissenschatliche Bibliothek

Walter Benjamin war zu Lebzeiten vorwiegend als Kritiker bekannt, heute ist er als Philosoph breit rezipiert. Am 15. Juli ist der 130. Geburtstag des großen Denkers, und vor 80 Jahren erschien posthum seine Schrift „Über den Begriff der Geschichte", den die Wissenschaftliche Bibliothek der Stadt Trier als „Objekt des Monats" präsentiert.

Dieses Werk, von geringem Umfang, aber großer Bedeutung schrieb Benjamin in den Wintermonaten 1939/40 nach der Entlassung aus einem Lager, wo er als Jude interniert war. Kurz danach übergab er das Manuskript an die befreundete Hannah Arendt. Der Philosophin gelangt es 1941 in New York, Benjamins Manuskript dem Philosophen Theodor W. Adorno zu übergeben. Inzwischen war Benjamin nicht mehr am Leben: Auf der Flucht aus Frankreich fürchtete er, an die Deutschen ausgeliefert zu werden und nahm sich am 26. September das Leben. Sein letztes Werk „Über den Begriff der Geschichte" wurde in der Broschüre „Walter Benjamin zum Gedächtnis" vom Frankfurter Institut für Sozialforschung in Los Angeles, wo Adorno arbeitete, vor 80 Jahren herausgegeben aber kaum verbreitet.

Erst 1950 erschien es dann in der Zeitschrift „Die Neue Rundschau". In 18 geschichtshilosophischen Thesen reflektiert der Autor die Geschichte der Menschheit und die Machtverhältnisse. Die Perspektive der Menschen zweiter Kategorie, die der Autor als Jude im Exil und im Lager erlebt hat, war bis dahin in der Geschichtswissenschaft nicht vertreten. Benjamin: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht." Die bisherige Geschichtsschreibung und der Umgang mit dem Kulturerbe werden in Frage gestellt: Diese sei „niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein".

Benjamins Eintreten gegen eine Vereinnahmung der Geschichte durch die Sieger sind in einer Zeit der Rückgaben der Kulturgüter aus kolonialen Kontexten und „Black Lives Matter" Bewegung sehr aktuell. Er fordert eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung. Aufgabe sei die „Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes", um die Geschehnisse multiperspektivisch zu betrachten.

In der Region Trier gibt es bisher nur vereinzelte Debatten über koloniale Kontexte von Kulturgütern. Es gibt kein ethnologisches Museum, das sich neu erfinden müsste, und keine Kolonialdenkmäler die für Empörung sorgen. Es gibt zwar den von Dr. Eva Bischoff betreuten Blog „Beziehungsweise Trier. Globalgeschichte in der Region" (https://trierglobal.hypotheses.org/), der aber ausschließlich in Fachkreisen bekannt ist. Einen breiten Diskurs der Zivilgesellschaft, wie bei Initiativen zu Postkolonialismus in Hamburg, Leipzig, Berlin, Frankfurt oder Freiburg, gibt es aber noch nicht.

Gibt es in der Geschichte der Stadt Trier und Umgebung überhaupt Spuren der Kolonialgeschichte? Gibt es Dokumente der Kultur, die auch „Dokumente der Barbarei" sind, um Benjamin zu zitieren? Wenn man sich um Multiperspektivität bemüht und recherchiert, kann man verdrängte Kapitel der Geschichte aufdecken. Im Lesesaal der Wissenschaftlichen Bibliothek kann man mit Hilfe ausgewählter Werke von Walter Benjamin über Privilegien und Diskriminierungen und den Begriff der Geschichte nachdenken. Eine Auswahl (Foto links: Bibliothek) steht in der Wissenschaftlichen Bibliothek zur Verfügung.

Dr. Magdalena Palica