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26.08.2008

Stadtgeschichte spüren

Marion Remmy ertastet Details der Steipe-Skulpturen.
Marion Remmy ertastet Details der Steipe-Skulpturen.
Helena trägt eine Krone, Jakobus einen Krausbart und Petrus guckt ein wenig verkniffen. Obwohl viele Trierer schon oft an ihnen vorbei gelaufen sind, sind die Details der Steipe-Skulpturen sicherlich nicht vielen bewusst. Marion Remmy und Albert Schtschepik ist der Anblick der Figuren nicht vertraut: Sie sind sehbehindert und können die Details nur fühlen. Gemeinsam spüren sie im Stadtmuseum Simeonstift der Stadtgeschichte nach und tasten sich durch die Jahrhunderte.
    
„Der hat aber eine gute Figur“ meint Marion Remmy, während sie langsam mit behandschuhten Fingern am Waffenrock des Steipe-Wächters entlangfährt. Vorsichtig zeichnet sie die Umrisse der gotischen Figuren nach und erhält so neue Eindrücke, die ihr bislang verwehrt blieben. Weiter geht es zur barocken Minerva und Petrus und seinen Tugenden. Die Führung im Stadtmuseum, die von der speziell ausgebildeten Stadtführerin Dorothee Serwe geleitet wird, richtet sich an Blinde und Sehbehinderte. Serwe konzentriert sich während der Tour auf Skulpturen, Möbel und Modelle – auf alles, was man tasten kann. Mit dem Museum hat sie abgestimmt, was mit Handschuhen angefasst werden darf. Zusätzlich hat sie Skizzen dabei (Foto links), mit deren Hilfe die Umrisse und Proportionen eines Denkmals oder Kunstwerks fühlbar werden. Langsam fahren die Teilnehmer mit den Fingern über das Papier. Das Marktkreuz können sie so nachzeichnen, bevor sie auch das Original befühlen.
        
Speziell für Blinde und Sehbehinderte angefertigt wurde ein Stadtplan, in dem die einzelnen Straßenzüge und Gebäude nachgebildet sind. „Hier muss man sich erstmal reinfühlen“, meint Marion Remmy. „Aber es ist einfach gehalten, was gut ist, denn zu viel Filigranes verwirrt nur.“

Auch das Stadtmodell, das Trier um 1800 zeigt, ertasten die Teilnehmer. Zwar können sie wegen der Größe des Modells nicht die gesamte Fläche erreichen, doch lassen sich auch so viele neue Eindrücke gewinnen. Die Porta Nigra als Kirche, die vielen Freiflächen in der damals dünn besiedelten Innenstadt – Dorothee Serwe führt die Hände der Teilnehmer vorsichtig zu den Miniaturen der verschiedenen Baudenkmäler. Die Bäume, die auf dem Modell angebracht sind, halten den forschenden Händen nicht stand. „Da hab ich wohl ein paar Bäume gefällt“, meint Albert Schtschepik schelmisch. Doch das ist kein Problem: Sie können einfach wieder zurückgesteckt werden.   

Zwischen Seidentaft und Wolltuch

Zum Abschluss geht es in die Kleiderkammer des Museums. Zunächst in einen dunklen Vorraum, in dem sich der Museumsbesucher an das wenige Licht gewöhnen kann. Kein Problem für die Teilnehmer dieser Führung: Für Albert Schtschepik ist es seit Ende der 70er Jahre rundum dunkel, damals verschwand das letzte bisschen Augenlicht, doch viele Eindrücke sind geblieben: „Die Bilder von Trier habe ich noch im Kopf.“ Doch wenn er etwas ertastet, bleiben ihm Dinge genauer im Gedächtnis, Details sind spürbar, denen man vorher keine Beachtung schenkte.
  
In der Kleiderkammer können die Sehbehinderten zwar nicht die prächtigen Roben bestaunen, wohl aber deren Stoffe befühlen. In einem Buch sind unterschiedliche Muster zusammengestellt: Seidenspitze, -taft oder -chiffon. „Das ist ein Tasterlebnis“, sagt Schtschepik.
 
Nach zweieinhalb Stunden Führung ist Marion Remmy geschafft. Es ist anstrengend, die vielen verschiedenen Dinge aufzunehmen, berichtet sie. Doch gleichzeitig ist sie froh: „Es ist beeindruckend, die verschiedenen Stoffe und Skulpturen zu ertasten, das war ein großer Gewinn für mich.“ Auch Albert Schtschepik ist sehr zufrieden. Obwohl er sich mit der Stadtgeschichte als Trierer bereits sehr gut auskennt, hat er durch die Führung viele neue Eindrücke sammeln können. „Gerade in Museen ist das oft sehr schwierig.“ Gern nutzt er daher Angebote, die sich speziell an Blinde und Sehbehinderte richten. „Solche Führungen sind nicht alltäglich, daher ist es besonders schade, dass sie von so wenigen Blinden genutzt werden“, meint er.