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09.05.2023

Hoffnung auf politische Wende

Ein Mann trägt ein schwarzes Sakko und steht an einem Rednerpult vor einem Plakat mit dem Schriftzug "Trierer Rede"
Der Historiker und preisgekrönte Sachbuchautor Gerd Koenen hielt die diesjährige „Trierer Rede“ in der Promotionsaula im Priesterseminar.

Mit dem Historiker und Publizisten Gerd Koenen hielt ein ausgewiesener Marx- und Russland-Kenner die diesjährige „Trierer Rede", in der er aktuelle Bezüge der Marxschen Analyse des russischen Zarenreichs herausarbeitete. Die jetzige russische Regierung unter Wladimir Putin habe sich mit der Invasion der Ukraine in eine Sackgasse begeben, aus der sie nicht mehr siegreich hervorgehen könne, befand Koenen.

Die „Trierer Rede" findet seit 2019 jährlich am 5. Mai, dem Geburtstag von Karl Marx, statt. Der aus der Jubiläumsfeier „200 Jahre Karl Marx" hervorgegangene politisch-gesellschaftliche Diskurs soll durch Impulse renommierter Referentinnen und Referenten aus Kultur und Wissenschaft fortgesetzt und verstetigt werden. Bisherige „Trierer Redner" waren der Historiker Lutz Raphael, die Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler und die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann.

Nach einer Einführung von Kulturdezernent Markus Nöhl ging Gerd Koenen in der anfangs voll besetzten Promotionsaula des Priesterseminars darauf ein, wie sich der Kommunismus russisch-sowjetischer Prägung von der Gesellschaftsanalyse des Karl Marx unterschied und immer weiter entfernte. Der Auslöser dieser Entwicklung sei Marx‘ enger Freund und Wegbegleiter Friedrich Engels gewesen, der den Begriff des Marxismus als einer Universalwissenschaft geprägt und propagiert habe. Bei Lenin wurde daraus der Satz: „Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist." Dabei hatte Marx selbst einst postuliert: „An allem ist zu zweifeln."

Mit Lenin sei der Marxismus von einer Gesellschaftstheorie zu einer starren Doktrin verkommen, so Koenen. Stalin habe die „brachiale Vereinfachung" der Marxschen Geschichtsphilosophie auf die Spitze getrieben und als Vorwand für die mit vielen Opfern verbundene Kollektivierung und „Crash-Industrialisierung" benutzt.

Koenen erinnerte daran, dass Marx sich intensiv mit Russland und dessen „geheimnisvollen unaufhörlichem Wachstum" beschäftigte, sogar die russische Sprache lernte und darüber zeitweise die Arbeit an seinem Hauptwerk „Das Kapital" zurückstellte. Marx beschrieb das Zarenreich nicht nur als Despotie, die die eigene Bevölkerung unterdrückte, sondern aufgrund der ständigen Ausweitung seines Staatsgebiets auch als eine imperialistische Macht. Das russische Volk war in diesem Reich schon im 19. Jahrhundert nur eine Minderheit.

Noch in der Verfassung der UdSSR von 1922 gab es für die Teilstaaten, darunter die Ukraine, eine „Ausstiegsklausel". Durch den Sieg im Abwehrkampf gegen den deutschen Überfall 1941 sei es Stalin dann gelungen, die vielen Nationen eng an die Moskauer Zentrale zu binden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sei die Russische Föderation ebenso wie die Ukraine nur einer von vielen Nachfolgestaaten gewesen. Putin hat dieses Ergebnis als „größte geopolitische Katastrophe des 20 Jahrhunderts" bezeichnet und versuche nun, es rückgängig zu machen. Dabei berufe er sich wiederum auf Zar Peter den Großen: Dieser habe keine Länder erobert, sondern sie nur zu Russland zurückgeholt.

Putins Strategie habe keine Aussicht auf Erfolg, konstatierte Koenen. „Aber Russland hat gerade in Niederlagen immer auch den Mut zu umwälzenden Veränderungen gefunden. Dieses Land verfügt über unglaublich viele positive menschliche Kräfte. Daran glaube ich nach wie vor."

Ralph Kießling