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31.07.2018

Marx und das Elend der Nachbarn

Professor Dr. Stephan Laux (links) und Matthias Schneider mit den Armenlisten
Eine außergewöhnliche Tour durch Trier im Jahr 1832 bieten Professor Dr. Stephan Laux (links) und Matthias Schneider mithilfe ihres Projekts „Armenkarte 1832“ nun auch online an. Vor ihnen liegen die von preußischen Beamten geführten Armenlisten und der um 1845 entstandene Stadtplan. Foto: Uni Trier

In Trier lebte der jugendliche Karl Marx Tür an Tür mit der Armut. Seine Nachbarn Mathias Becker, Mathias Consbrück und Peter Walsdorf beispielsweise hatten ihre liebe Mühe und Not, sich und ihre meist vielköpfigen Familien über Wasser zu halten. Dank eines außergewöhnlichen Digitalisierungsprojektes kann man sich mit Karl Marx auf einen virtuellen Rundgang durch das Trier des Jahres 1832 begeben.

Entstanden ist diese Präsentation an der Universität Trier unter Leitung von Stephan Laux, Professor für Geschichtliche Landeskunde. Im Eingangsbereich der Ausstellung zum Marx-Jubiläumsjahr im Stadtmuseum Simeonstift ist die Medienstation seit 5. Mai zu sehen. Neuerdings ist sie auch unter der folgenden Domain im Internet zugänglich: www.armenkarte1832.uni-trier.de.

Seit 1831 überzog die Cholera das Land. Arme galten bei der Verbreitung der Krankheit als Risikogruppe. Daher verschafften sich preußische Beamte in Trier 1832 mit Hausbesuchen ein Bild dieser sozialen Gruppe, deren Angehörige oft wegen ihres hohen Alters oder aufgrund von Krankheiten keinerlei Einkommen hatten. In ihren Listen erfassten sie nicht nur die Wohnorte und biografischen Daten der Armen. Unter der Rubrik „Moralität" ist darin etwa über den Tagelöhner Christoph Friedrich zu lesen, er sei „betrügerisch, arbeitsscheu und dem Trunk ergeben". „Er bettelt, säuft und flucht auf Gott und die Menschen" wird ein gewisser Martin Görgen beschrieben.

Professor Laux und seinen Mitarbeitern fielen die Armenlisten bei der Arbeit an einer Edition von Quellen zur Geschichte der Stadt Trier in der frühen Preußenzeit in die Hände. Die darin enthaltenen Angaben zu den armen Familien übertrugen sie in einen um 1845 entstandenen Stadtplan von Trier. Die nunmehr digital verfügbare Version bietet dem Nutzer Straße für Straße einen Überblick über darin lebende mittellose Familien – und vieles mehr. „Das Portal liefert über seine Filterfunktionen Hintergrundinformationen und Auswertungen per Mausklick, die auf herkömmliche Weise aufwendige Recherchen erfordern würden", erklärt Matthias Schneider, der für die fachwissenschaftliche Umsetzung und Koordination des Projekts in Verbindung mit Niklas Alt (Programmierung) und Peter Albertz (Design), zuständig ist.

Misere als Triebfeder?

„Im Rückenwind des Marx-Jahres war der Fund ein Glücksfall", erinnert sich Stephan Laux. „Die Armenliste hat uns in die Lage versetzt, den jugendlichen Karl Marx in seinen Raum und seine Zeit einzubetten." Im Hinblick auf die wissenschaftliche Aussagekraft dieses Armutskatasters in der Auseinandersetzung mitMarx gibt sich Laux zurückhaltend: „Wir können nicht behaupten, dass wir damit wissen, was Marx geprägt hat. Wir bilden aber ab, was er wahrgenommen haben muss: Marx war in diesen Jahren in seiner Umgebung mit einer lebensbedrohenden Misere konfrontiert." Dieses Faktum und die Erkenntnis, dass das Elend eine wichtige Triebfeder seiner Werke war, legen zumindest den Schluss nahe, dass die in der Trierer Armenkarte verbildlichten sozialen und wirtschaftlichen Missstände Karl Marx‘ Entwicklung und Werke beeinflusst haben.