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01.12.2020

Märchen geben Stabilität in unsicheren Zeiten

Märchenbücher
Märchen der Weltliteratur. Foto: Wissenschaftliche Bibliothek/Anja Runkel

Die wissenschaftliche Bibliothek der Stadt Trier empfiehlt im Dezember Bücher aus der Reihe „Die Märchen der Weltliteratur". Über 30 Bänder der Erzählungen aus der ganzen Welt bieten für kalte Abende eine abwechslungsreiche Lektüre. Auf die heilende Kraft der Märchen hat die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk in ihrer Nobelpreisrede aufmerksam gemacht.

Als sie am 7. Dezember 2019 ihre Rede „Der liebevolle Erzähler" gehalten hat, war nocht nicht abzusehen, wie der Alltag im nächsten Jahren aussehen würde. Wenige Tage vorher wurden in Wuhan die ersten Personen mit Covid 19 angesteckt, aber man ahnte noch nicht, dass eine Pandemie im Anmarsch war. Die Videoaufnahmen der Nobelpreisverleihung vom Dezember 2019 erscheinen heute fast wie ein Märchen: Präsenzveranstaltungen, Menschenmengen ohne Masken Die Worte der polnischen Preisträgerin haben neue Aktualität gewonnen: „Ich habe häufig das Gefühl, als fehle der Welt etwas, wenn wir sie ausschließlich über unseren Bildschirm erfahren, als werde sie gewissermaßen irreal, zweidimensional, fern und unbestimmt."

Passende Erzählform gesucht

2020 sitzen die Menschen im Advent wahrscheinlich noch mehr vor den Bildschirmen. Adventskonzerte, Treffen mit Freunden auf dem Weihnachtsmarkt, Schlittschuhfahrt am Kornmarkt, Weihnachtsmärchen im Stadttheater – alles fällt aus. Tokarczuk sagt dazu: „Unser heutiges Pro-
blem scheint darin zu bestehen, dass wir nicht nur für die Zukunft, sondern auch für das ganz konkrete Jetzt, für die rasend schnellen Veränderungen der Welt, noch keine passenden Erzählformen haben. Es fehlt uns die Sprache, es fehlen Sichtweisen, Metaphern, Mythen und neue Märchen."

Märchen bieten etwas Wichtiges, das eine Serien-Dramaturgie nicht geben kann. Die einzelnen Folgen springen von einem zum nächsten Cliffhanger, wo sich die Hauptpersonen manchmal ändern oder verschwinden, bieten dem Zuschauer kein Gefühl eines guten Ausgangs. Im Gegensatz dazu können Mythen oder Märchen durch ihre geschlossenen Strukturen, klare Regeln und große Helden in einem aktuellen Zustand der Unbestimmtheit zu einem Gefühl der Stabilität beitragen.

Sehnsucht bleibt

Was aber immer möglich bleibt, ist die Suche nach dem liebevollen Erzähler. Dazu will die Nobelpreisträgerin ermutigen und erinnert sich an ein Märchen von Hans Christian Andersen über eine Teekanne, dem sie mit glühenden Wangen und feuchten Augen lauschte: „Die Welt liegt im Sterben, doch nicht einmal das bemerken wir. (…) Unsere Spiritualität schwindet, oder sie wird oberflächlich und rituell. Oder aber wir werden zu Gefolgsleuten simpler Kräfte, ob physischer, gesellschaftlicher oder ökonomischer, die uns lenken, als wären wir Zombies. Und in einer solchen Welt sind wir tatsächlich Zombies. Deswegen sehne ich mich nach der Welt der Teekanne zurück." In der sozialen Distanzierung, die gerade in der Adventszeit besonders spürbar ist, bleiben die Menschen wahrscheinlich doch vor den Bildschirmen und sehen die eine oder andere Serie. Man sollte aber nicht die Märchenlektüre als schöne Alternative vergessen. 

Magdalena Palica

Zitate aus: „ Der liebevolle Erzähler“, Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur von Olga Tokarczuk; aus dem Polnischen von Lisa Palmes, Zürich: Kampa, 2020.