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31.01.2012

Grundlegender Perspektivwechsel nötig

Nancy Poser
Nancy Poser
Mitte Januar wurde Nancy Poser zur vorläufigen Vorsitzenden des Beirats der Menschen mit Behinderungen gewählt. Die 32-jährige Juristin stammt aus Sachsen und kam 1998 zum Studium nach Trier. Heute arbeitet sie als Richterin am Amtsgericht. Im Interview mit der Rathaus Zeitung (RaZ) äußert sie sich zu Arbeitsschwerpunkten des Gremiums und den wichtigsten Zielen.

RaZ: Was sind die größten Alltagsprobleme der Menschen mit Behinderung?

Nancy Poser: Pflege und Assistenz sind ein zentrales Feld. Dazu gehört auch, die Wahrnehmung des Alltagslebens überhaupt zu ermöglichen, zum Beispiel die Teilnahme an Kulturveranstaltungen. Weitere Schwerpunkte sind Studium und Arbeit. Die feste Quote für behindertengerechte Arbeitsplätze in Firmen ab einer bestimmten Größe ist eine sehr gute Sache. Wenn die Unternehmen das nicht leisten können, werden sinnvollerweise die Befreiungszahlungen zweckgebunden verwendet. Sehr wichtig ist, die Integration in den ersten Arbeitsmarkt voranzubringen. Es muss versucht werden, Leuten mit Einschränkungen ein Umfeld zu schaffen, in dem sie mit ihren Möglichkeiten tätig werden können. Das Ziel ist, so weit es geht, wegzukommen von den reinen Sonderformen,  auch wenn es vielleicht in anderen Fällen nicht anders möglich ist.

Wie sieht es bei den Schulen aus?

Bei jüngeren Menschen mit Behinderungen muss man nach meiner Einschätzung von reinen Sonderschulen wegkommen. Ich habe für Trier noch keinen umfassenden Überblick, weiß aber schon, dass es hier verschiedene Anstrengungen gibt. Es sollte auf längere Sicht gar nicht mehr die Notwendigkeit einer besonderen Klasse geben. Kinder sollten in ihrem Bezirk beschult werden, gegebenenfalls mit Hilfestellungen. Bei neuen Schulen muss direkt darauf geachtet werden, sie barrierefrei zu bauen.

Wie steht Trier im Vergleich mit anderen, ähnlich großen Städten da?

In meiner Heimatstadt Hoyerswerda wurden Behinderte schon immer gefördert. Erste Integrationsprojekte aus den 90er Jahren sind aber nicht vergleichbar mit der jetzigen Situation. In deutschen Städten wurde in den letzten Jahren wirklich viel getan. Was ich in Trier positiv finde, ist der ÖPNV. Mit den Bussen ist hier alles relativ durchgängig nutzbar. Es gibt Städte, wo man erstmal auf den Fahrplan schauen muss, weil zum Beispiel nur jeder vierte Bus ein für Rollstuhlfahrer geeignetes Niederflurmodell ist. Außerdem gibt es in Trier Be-mühungen für weitere behindertengerechte Wohnanlagen. Da ist aber insgesamt noch einiges zu tun.

Waren Sie vor dem Start des Beirats schon in einer Selbstvertretungseinrichtung für Behinderte aktiv?

Im engeren Sinne ist das neu für mich. Ich bin aber seit 1998 im Vorstand der deutschen Hirntumorhilfe und arbeite im Forum behinderter Juristen mit. Es wird zum Beispiel aktiv, wenn ein Gesetzesentwurf zu schreiben ist, so beim Gleichstellungsgesetz und jetzt beim ersten Entwurf des Teilhabesicherungsgesetzes.

Geht es dabei um die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen?

Ja. Sie ist schon seit 2009 in Deutschland geltendes Recht, aber noch viel zu wenig bekannt und muss viel öfter berücksichtigt werden. Es ist ein großes Ziel, dieses Konzept der Inklusion stärker ins Bewusstsein zu rücken. Anschauliches Beispiel ist der Rollstuhlfahrer, der vor einer Treppe steht. Inklusion bedeutet den Perspektivechsel: Nicht der Rollstuhl ist das Problem, sondern die Treppe. Die Gesellschaft muss bessere Bedingungen schaffen und nicht mehr der Betroffene selbst Sorge tragen, wie er die Barrieren im Alltag überwindet. Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben soll schon von vorneherein sichergestellt sein.

Wie kam es zu ihrem Engagement für den Beirat der Menschen mit Behinderungen und was sind ihre Beweggründe dafür?

Der Club Aktiv ist auf mich zugekommen. Zudem war mir aufgefallen, dass es in den letzten Jahren überall in den Städten Behindertenbeauftragte und einen Beirat gab, aber in Trier nicht. Dieses Defizit wird jetzt aufgeholt. Ich bin froh, dass die Leitungsposten im Beirat erstmal vorläufig vergeben wurden, damit wir uns kennenlernen und sehen können, wer welche Kompetenzen und Kapazitäten hat.

Was sind die wichtigsten Ziele in der ersten Phase des Beirats?

Wir sind jetzt in einer Findungsphase und haben noch keine konkreten Projekte, an denen wir arbeiten. Wir wollen zuerst auf die Interessenvertretungen und Verbände zugehen und nachhören, wie dort die Bedürfnisse sind, wo die Betroffenen die größten Defizite und den größten Handlungsbedarf sehen. Dann hat der Beirat einen Anhaltspunkt, wo er konkret anknüpfen kann. Wir können zwar keine Einzelfallbetreuung leisten, aber wenn unser Büro arbeitsfähig ist, können sich Betroffene mit ihren Anliegen an uns wenden. Vorläufig sind wir per E-Mail über behindertenbeirat.trier@googlemail. com zu erreichen. Außerdem soll der Beirat für die Stadtverwaltung und die Gremien beratend tätig sein, um Projekte aus Sicht der Menschen mit Behinderungen zu prüfen. Das nächste sind Eigeninitiativen des Beirats. Aber dafür brauchen wir erstmal den Input aus der Bevölkerung.

Wie groß schätzen Sie die Herausforderung ein, die Interessen der Menschen mit verschiedenen Behinderungen unter einen Hut zu bringen?

Es ist auf jeden Fall sinnvoll, dass unter den stimmberechtigten Mitgliedern des Beirats verschiedene Handicaps vertreten sind. Für mich wäre es unheimlich schwer, zu beurteilen, was jemand, der blind oder taub ist, an Hilfsmitteln braucht und an Barrieren im Alltag zu überwinden hat. Die Arbeit des Beirats ist auch deswegen mit einigem Organisationsaufwand verbunden. Wir wollen uns etwa dreimal im Jahr treffen und Arbeitsgruppen zu Schwerpunktthemen bilden, um gezielt einzelne Probleme anzugehen.

Das Gespräch führte Petra Lohse