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23.06.2020

Das Kriegsende konnte kein Happy End sein

Marianne Elikan als elfjähriges Mädchen (1939)
1939 entstand dieses Foto der elfjährigen Marianne Elikan, die in einem „Judenhaus“ Brückenstraße 82 wohnte. Foto: Stadtarchiv

„Trier ist in einem ganz fürchterlichen Zustand. Wir waren alle ganz enttäuscht." Diese Worte schrieb das jüdische Mädchen Marianne Elikan nach ihrer Rückkehr am 17. Juli 1945. Sie hatte das KZ Theresienstadt überlebt. Wer heute über das Kriegsende nachdenkt, ist leicht geneigt, es als Happy End zu sehen, aber Elikans Tagebuch vermittelt eine andere Botschaft. Die wissenschaftliche Bibliothek Weberbach präsentiert dazu einen Podcast.

Das Lesen oder Hören der Aufzeichnungen der 2014 verstorbenen Marianne Elikan zwingt dazu, sich mit der Realität der Nachkriegszeit auseinanderzusetzen. 1945 war für die überlebenden Juden kein Happy End möglich, besonders für Kinder, deren gesamte Familien umgebracht wurden. Marianne Elikan verlor alle ihre jüdischen Verwandten. Sie hatte keine Ausbildung, kein Zuhause, keine Zukunft. In ihren Tagebüchern klingt ihre bittere Enttäuschung durch, wie in dem Eintrag vom 24. Juli 1945: „Die Zeit vergeht und du bist immer noch alleine. Von keinem Menschen hörst du etwas. Einsam und alleine verlassen bist du jetzt (…) Alles machst du alleine und denkst stets dran: Ach wäre das schön, wenn Deine Eltern da wären. Wenigstens der Vater oder Mutter. Hier in deiner Heimat, da bist du heute wie fremd? Trümmer und Trümmer siehst du, keiner erkennt dich oder will dich erkennen. Wozu all dieses Elend."

Marianne Elikan wurde am 29. Juli 1928 in Durlach als Tochter einer jüdischen Mutter geboren. Sie wuchs in einer jüdischen Pflegefamilie in Wawern auf. In der Pogromnacht plünderten die Nationalsozialisten ihr Elternhaus. Im Sommer 1939 musste die Familie nach Trier umziehen, wohnte in „Judenhäusern" und musste Zwangsarbeit leisten. Marianne Elikan durfte keine öffentliche Schule mehr besuchen, keine Straßenbahn fahren. Schwimmbäder, das Theater und Sportvereine waren verboten. Sie musste den Judenstern tragen, wurde beschimpft und bespuckt.

An einem kalten Frühlingstag 1942 wurde sie während einer Straßenbahnfahrt verhaftet und verbrachte mehrere Tage im Gestapo-Gefängnis beim Bahnhof. Dann verabschiedete sie sich im Frauengefängnis im Bischof- Korum-Haus von ihren Pflegeeltern. Am 26. Juli wurde Elikan nach Theresienstadt deportiert. Wie die nur elf Monate jüngere und posthum weltberühmt gewordene Anne Frank schrieb sie ein Tagebuch, um geistig zu überleben. Zwischen beiden gibt es große Unterschiede: Anne Frank wuchs in einer bürgerlichen Familie auf und wurde früh gefördert. Marianne Elikan konnte nur bis zu ihrem elften Lebensjahr eine Schule besuchen. Ihre Eltern konnten kaum schreiben. Erst bei der Zwangsarbeit und in den Trierer „Judenhäusern" lernte sie kulturell interessierte Frauen kennen.

Völlig auf sich allein gestellt

Elikan spürte genug Inspiration, um mit dem Tagebuchschreiben anzufangen. In dem Podcast sind Auszüge ihrer Texte zu hören, die nach der Rückkehr aus dem Lager Theresienstadt entstanden. Als Minderjährige war sie auf sich allein gestellt und musste schnell die Hoffnung aufgeben, ihre Angehörigen wiederzusehen. Einer ihrer letzten Einträge datiert vom 29. Juli 1945: „Solch ein Geburtstag wie heute hatte ich schon lange nicht mehr. So schwer. Ich dachte und hatte doch die Hoffnung, dass ich dieses Jahr bei den Eltern sein werde oder dass sie da wären. (…) Diesen Kummer den ich hier habe, hatte ich nicht einmal in Theresienstadt." Wer das heute liest, kann kaum glauben, dass das Leben nach der Befreiung und im Frieden schwieriger sein konnte als der KZ-Alltag. Elikan schrieb nach der Rückkehr: „Hier in deiner Heimat, da bist du heute wie fremd?"

Die NS-Propaganda hatte die jüdischen Kinder aus dem Bewusstsein ausgelöscht. Marianne Elikan erlebte Verfremdung und Ausgrenzung, hatte keine nichtjüdischen Freunde und Lehrer. Viele Trierer merkten nicht, dass Elikan und andere Kinder in die Vernichtungslager geschickt wurden und nur wenige „Unsichtbare" zurückkehrten.

Elikan leitete selbst einen Wandel ein: Mit fast 80 veröffentlichte sie ihre Erinnerungen. Tagebücher, Gedichte und Prosatexte erschienen 2008 unter dem Titel „Das Leben ist ein Kampf". Ein Jahr später wurden ihre Persönlichkeit und ihr Überlebenswille in einer von dem Historiker Dr. Thomas Schnitzler kuratierten Ausstellung lebendig, die die Stadtbibliothek mit dem Wittlicher Emil-Frank-Institut im Palais Walderdorff zeigte. Der neue Podcast knüpft an dieses Projekt an.