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06.05.2019 | Vortrag von Professor Lutz Raphael

„Trierer Rede“ zieht positive Bilanz für 100 Jahre Demokratie in Deutschland

Professor Lutz Raphael hält die erste „Trierer Rede“ in der Promotionsaula des Bischöflichen Priesterseminars.
Professor Lutz Raphael hält die erste „Trierer Rede“ in der Promotionsaula des Bischöflichen Priesterseminars. In diesem Raum hatte Karl Marx 1835 als Schüler des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums sein Abiturzeugnis entgegengenommen.

Beim ersten Vortrag der städtischen Reihe „Trierer Rede“, die am 201. Geburtstag von Karl Marx ihre Premiere erlebte, zog der Trierer Historiker Professor Lutz Raphael eine positive Bilanz zur Entwicklung der deutschen Demokratie in den vergangenen 100 Jahren. Trotz vieler Umbrüche und der durch das NS-Regime verursachten Katastrophe habe sich dieses System bewährt und ein erstaunliches Widerstandspotenzial gegen den politischen Extremismus von Rechts und Links gezeigt.

2019 stehen viele Jubiläen auf der Agenda, die die Katastrophen und Aufbrüche des 20. Jahrhunderts wie unter einem Brennglas zusammenfassen: 100 Jahre Start der Weimarer Republik, 70 Jahre Grundgesetz und 30 Jahre Mauerfall. Zum Start der städtischen Reihe „Trierer Rede“, die künftig jeweils zum Karl-Marx-Geburtstag am 5. Mai stattfinden soll, betonte der Trierer Historiker Professor Lutz Raphael, es gebe neben radikalen Umbrüchen einige Kontinuitäten, die einiges mit Marx und seinem Fokus auf der sozialen Frage zu tun hätten.

Der Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität Trier verwies in seinem Vortrag „Von der Revolution zur Routine? 100 Jahre Demokratie in Deutschland“ in der Promotionsaula auf Elemente der Sozial- und Wirtschaftspolitik, die vor allem mit dem revolutionären Umbruch 1918/19 verbunden sind oder als Reaktion darauf zu deuten sind. Im Einzelnen nannte er die betriebliche Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft als tragende Säulen der Wirtschaftsdemokratie und den demokratischen Sozialstaat mit der Orientierung politischer Entscheidungen an der sozialen Sicherheit und an erwerbsorientierten Statusgarantien für die Bürger. Raphael ergänzte: „Bei einem solchen Modell in enger Verbindung zum wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen ist bei einem Einbruch wie der Finanzkrise 2008 die Gefahr einer politischen Verunsicherung relativ groß.“ Für den Historiker zeigt sich die Leistungsfähigkeit einer Demokratie nicht nur in der Wahrung bürgerlicher Freiheiten, sondern auch in der Eindämmung kapitalistischer Exzesse in einem neoliberalen, global ausgerichteten System, das sich seit den 90er-Jahren etabliert habe.

Als weitere dauerhafte Strukturmuster der Demokratie seit 100 Jahren nannte Raphael den Rechtsstaat (vor allem neuere Konzepte von Recht und Ordnung in Abgrenzung zum NS-Regime) sowie die immer wieder aufkommende Debatte um das Verhältnis von Nationalstaat und Demokratie. Diese Frage habe nicht zuletzt angesichts der 2015 gestiegenen Flüchtlingszahlen große Brisanz gewonnen. Neben diesen grundlegenden Strukturen spielte nach Aussage von Raphael in den letzten 100 Jahren außerdem die westlich orientierte Demokratie, vor allem nach dem Vorbild der USA, eine zentrale Rolle. Der Historiker ergänzte: „Hier stellt sich auch die spannende Frage, wann und wie die Berliner Demokratie ab den 90er-Jahren begonnen hat, sich zumindest partiell von diesem Vorbild zu lösen.“

Zu Beginn hatte OB Wolfram Leibe betont, man habe die Reihe „Trierer Rede“ am Marx-Geburtstag etabliert, „weil wir ein Jahr nach der großen Jubiläumsfestivität eine Kontinuität in der Debatte herstellen und herausarbeiten wollen, was uns Marx heute noch zu sagen hat.“ Die intensive und kontroverse Diskussion im Vorfeld des großen Jubiläums, vor allem zur Annahme des Statuen-Geschenks aus China, habe sich durch ihr hohes Niveau ausgezeichnet. Leibe dankte dem Stadtrat für seine Unterstützung, der damit „einen wertvollen Beitrag zur Stärkung der politischen Kultur und Demokratie in der Kommune geleistet hat.“

Die Frage, ob die deutsche Demokratie in einem guten Zustand ist und sich gegen radikale Attacken von Rechts und Links wehren kann, griff Professor Raphael zum Abschluss seines Vortrags auf: Dabei gehe es um den „wohl unvermeidlichen Konflikt darüber, wie viel nationaler Zusammenhalt mit einer freiheitlichen Demokratie vereinbar ist. Die Umwandlung der meisten europäischen Länder in Zuwanderungsstaaten hat diesen Grundkonflikt wieder ganz oben auf die politische Agenda gesetzt“, so der Historiker. Nicht nur die deutsche Demokratiegeschichte zeige, dass solche Systeme durchaus anfällig gegen Missbrauch und Ohnmacht seien. Solche Anfechtungen müsse man aber in einer offenen Gesellschaft akzeptieren: „Die Demokratie entwickelt im Umgang damit Routine und ein Widerstandspotenzial. Dieses ist in den letzten 70 Jahren in diesem Spannungsfeld zu einem entscheidenden Ordnungsfaktor geworden“, betonte Raphael. OB Leibe leitete aus dieser Feststellung den Auftrag an alle Bürger ab, dem Missbrauch der Demokratie immer wieder aktiv entgegenzuwirken.

Das musikalische Rahmenprogramm der Matinee mit der ersten „Trierer Rede“, die das städtische Amt für Kultur vorbereitet hatte, gestalteten die Sängerin Stephanie Theiß und der Pianist Andrey Litvinenko. Sie präsentierten das „Lied von der belebenden Wirkung des Geldes“ von Bertolt Brecht und Hanns Eisler sowie als reizvollen Kontrast ein Arrangement rund um den Madonna-Song „Material Girl“ von 1984. Beide Songs setzten sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln ironisch mit dem Kapitalismus und seinen Auswüchsen auseinander.

 
Bildergalerie
  • Nach dem Vortrag tauschen sich die Besucher im Foyer der Promotionsaula bei einem Glas Wein über den Vortrag aus.
  • Oberbürgermeister Wolfram Leibe überreicht Professor Lutz Raphael als Dankeschön für seinen Vortrag ein Geschenkpaket mit OB-Wein.

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