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17.01.2017

"Jeder kann Fehler und Schwächen zugeben"

VHS-Bereichsleiterin Rita Brockhaus (Mitte) im Gespäch mit den Dozenten Dorothee Steinkamp und Hubert Weis.
VHS-Bereichsleiterin Rita Brockhaus (Mitte) im Gespäch mit den Dozenten Dorothee Steinkamp und Hubert Weis.
Allein in Trier leben nach aktuellen Schätzungen rund 10.000 „funktionale Analphabeten“ mit deutscher Muttersprache. Bereits seit 1983 bietet die Trierer VHS im Rahmen des Schwerpunkts zur Grundbildung Lese- und Schreibkurse für Erwachsene an. In einem Gespräch mit der Rathaus Zeitung (RaZ) berichten die zuständige Bereichsleiterin Rita Brockhaus und die Dozenten Hubert Weis und Dorothee Steinkamp über ihre Erfahrungen. 

RaZ: Wie ist derzeit die Resonanz bei den angebotenen Alphabetisierungskursen?

Rita Brockhaus: Wir haben drei Kurse, zwei am Abend und einen vormittags. Mit der Nachfrage sind wir zufrieden, die Plätze sind immer gut belegt. Es besteht auch die Möglichkeit, in bereits laufende Kurse einzusteigen. Das System ist flexibel, weil die Teilnehmer ganz unterschiedliche Voraussetzungen haben. Im Unterschied zu allen anderen VHS-Kursen ist in diesem Bereich bei den Teilnehmern das Verhältnis der Geschlechter ziemlich ausgeglichen.

Wie entstand bei Ihnen die Idee, als Dozent in den Alphabetisierungskursen tätig zu werden?

Hubert Weis: Ich war Volks- und Sonderschullehrer sowie Referatsleiter bei der ADD. Das Problem mit Lese- und Schreibschwächen war mir bekannt. Dann hat mich der frühere VHS-Chef Rudolf Hahn angesprochen, ob ich Interesse hätte, als Dozent zu arbeiten. Ich hatte nach der Pensionierung nochmal Lust, mein Wissen an andere weiterzugeben. Nach meiner mittlerweile fünfjährigen Erfahrung kann ich sagen, dass der berufliche Hintergrund als Lehrer für die Arbeit als Dozent unerlässlich ist. 

Dorothee Steinkamp: Ich war Grund- und Hauptschullehrerin und bin mit einer Unterbrechung seit zwölf Jahren dabei. Die Tätigkeit hat sich eher zufällig ergeben, nachdem ich bereits in einem Kurs für den Hauptschulabschluss unterrichtet hatte. Ein Grund für mein Engagement ist, dass ich das Problem schon aus meiner Zeit als Lehrerin von den Familien mancher Schüler kannte.

Was ist die größte Hemmschwelle, ehe Betroffene den Weg in einen Alphabetisierungskurs finden?

Weis: Hauptproblem ist, dass die meisten von diesen Angeboten nichts wissen, weil sie sich nicht auf den üblichen Wegen informieren können. Daher hat die „Mund-Propaganda“ eine große Bedeutung.

Steinkamp: Das kann ich nur bestätigen. Sehr viele Teilnehmer sind zu uns das erste Mal in Begleitung eines Bekannten gekommen.

Welche Rolle spielt in diesem Prozess  der Lerntreff im Palais Walderdorff?

Brockhaus: Wir versuchen, die Betroffenen auf verschiedenen Wegen zu erreichen. Dabei hat sich der Lerntreff als niederschwelliges Angebot bewährt. Außerdem gibt es seit einiger Zeit eine Selbsthilfegruppe, die jeden ersten Montag im Monat um 18 Uhr im Lerntreff zusammenkommt. Viele Betroffene brauchen nach unserer Erfahrung eine persönliche Begleitung, um überhaupt den Schritt in das Kursgebäude zu wagen und sich dort zurechtzufinden. Wir bieten auch eine Einzelberatung an.

Können sich die Teilnehmer der Kurse beim Lesen- und Schreibenlernen gegenseitig unterstützen?

Steinkamp: In den Kursen gibt es einen sehr guten sozialen Zusammenhalt, der diesen Prozess fördert. Viele kennen sich schon sehr lange. Sie sind in diesem Kurs unter ihresgleichen, es gibt kein Auslachen. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Jeder kann seine Fehler und Schwächen zugeben. Alle sitzen im gleichen Boot und helfen sich gegenseitig.

Weis: Das kann ich nur voll und ganz bestätigen. Es gibt aber unterschiedliche Gruppen. Manche sind sehr auf den Lehrer fixiert, in anderen gibt es dynamische Prozesse untereinander. Die Teilnehmer bestätigen sich ihre Fortschritte gegenseitig. Das kann eine große Motivation zum Lernen sein.

Brockhaus: Um solche Prozesse zu fördern, haben diese Kurse immer eine relativ kleine Teilnehmerzahl.

Wie werden die Kurse finanziert?

Brockhaus: Wir erhalten eine Grundförderung vom Land und seit dem ersten Semester 2013 gibt es zusätzlich Zuschüsse aus dem Europäischen Sozialfonds. Das bedeutet eine erhebliche Verbesserung. Seitdem haben wir auch Geld für Unterrichtsmaterial. Vorher haben das die Lehrer oft selbst gestaltet. Die Teilnehmer müssen keinen Beitrag mehr zahlen. Vorher waren es 20 Euro pro Kurs. Außerdem konnten wir zum Beispiel einen Besuch der Nero-Ausstellung finanzieren. Eine Frau war dadurch das erste Mal überhaupt in einem Museum. 

Weis: Wir haben mit diesem Geld Bücher für die gemeinsame Lektüre beschafft. Manche, die vorher noch nie ein Buch in der Hand gehabt hatten, waren sehr stolz, zum Beispiel einen Sherlock Holmes-Krimi in Leichter Sprache entdeckt zu haben.

Welche konkreten Erfolgserlebnisse gab es außerdem für die Teilnehmer in Ihren Kursen?

Brockhaus: Bei vielen merkt man allein schon vom äußeren Auftreten und der Körperhaltung her, dass sie selbstbewusster geworden sind.

Weis: Wir erhalten regelmäßig positive Rückmeldungen von früheren Teilnehmern. Viele können dafür jetzt eine E-Mail nutzen, was früher ausgeschlossen war. Es gibt immer auch wieder kleine Fortschritte im Beruf.

Steinkamp: Einer meiner Kursteilnehmer hat jetzt mit dem Führerschein angefangen, was früher völlig undenkbar gewesen wäre. Andere suchen jetzt zum ersten Mal eigenständig nach einer Wohnung im Internet.

Das Gespräch führte Petra Lohse